Auf Delta Green bin ich durch die Google+-Präsenz eines Autors aufmerksam geworden: Dennis Detwiller. Dennis postete Kurzgeschichten und Material zu Delta Green, und genau diese Einblicke in sein Schaffen waren es, die mich auf das Produkt aufmerksam gemacht haben. (Er scheint sich jetzt aber mehr auf sein Blog zurückgezogen zu haben.)
Mir fiel sofort der Einfallsreichtum auf, der hinter diesem Setting steckt. Dazu kommt, dass die Autoren wirklich schreiben können. Delta Green gibt es zwar schon länger, aber ich denke, ein solches Schmuckstück darf man auch mit einiger Verspätung wieder hervorkramen, zumal es immer noch Neuerscheinungen dazu gibt und es erst letztes Jahr als PDF wieder verfügbar gemacht wurde.
Erscheinungsbild
Illustrationen sind vorhanden, und einige durchaus stimmungsvoll, gerade weil man sich manchmal fragt, was zu erkennen sein soll. Das PDF präsentiert sich hauptsächlich in Schwarz und Weiß. Satz und Schriftarten sind optisch ansprechend. Ein bisschen textlastig wirkt das Ganze dann doch immer wieder. Ein gut gestalteter Index rundet das Werk ab.
Das PDF ist ein Scan, und das fällt auf mehrerlei Weise auf. Zuallererst ist es mit 195 MB ein ziemlich großer Download auf DTRPG. Weiterhin fehlen Bookmarks, was anhand der Seitenanzahl doch hinderlich ist. (In weiteren Produkten zum Setting wurde das dann besser gemacht.) Erfreulicherweise stimmen trotzdem die Seitenzahlen im Inhaltsverzeichnis und im Index, allerdings nur auf dem PC – auf Tablets gibt es einen Versatz von 8 Seiten aufgrund benannter Seiten am Anfang. Bookmarks und Index sind leider nicht klickbar.
Inhalt
Diese Rezension enthält Spoiler – wer Delta Green nicht leiten will, sondern nur spielen, kann es ja dem SL ihres oder seines Vertrauens weiterempfehlen.
Delta Green nimmt die Grundstimmung der in den 90ern populären Serie Akte X und kombiniert sie mit Chaosiums Call of Cthulhu. Aus den X-Files wurde dabei übernommen, dass es Verschwörungen innerhalb der US-Regierung gibt, die gegeneinander arbeiten, dass es bereits extraterrestrischen Kontakt gab und er vertuscht wird, und all die schillernden kleinen Namen und Details, die seit Jahrzehnten immer wieder durch die Medien geistern – MKULTRA, Operation BLUEBOOK, Majestic-12, der Roswell-Unfall, Area 51, Dreamland… Das verleiht dem Buch eine gewisse Authentizität – stetig wird auf Dinge Bezug genommen, über die bereits viele spekulative Bücher geschrieben wurden.
Auch der Cthulhu-Mythos kommt nicht zu kurz, und ist vielleicht genauso verworren. Einige Gruppen wie die Deep Ones verehren ja die Great Old Ones. Das millenniale Ende der Welt und die Wiederkehr Cthulhus scheinen bevorzustehen. Chaos und Verwüstung drohen, und fast alle Beteiligten sind sich ihres Beitrags unbewusst. Der Mythos ist der Kitt, der die Geschichte zusammenhält, aber noch viel mehr im Verborgenen als zuvor. Zu den meisten typischen Mythosaktivitäten wird ein „Update“ gegeben, aber den größten Raum im Buch nehmen die Mi-Go, die Fungi vom Yuggoth ein und deren Verbindung zu den Greys, den allseits bekannten grauen Außerirdischen.
Der Mythos mag bizarr sein, aber wer gerade den Aspekt mit UFOs und ungeklärten Phänomenen ausbauen will, dem empfehle ich das Buch Die Anderen von Johannes Fiebag (gebraucht immer noch erhältlich). Das zusammengetragene Material ist stellenweise surreal und enthält UFO– und Monstersichtungen, das Luftschiffphänomen des 19. Jahrhunderts, den Feenmythos – reichlich Material für Mystery-Abenteuer aller Art und zu allen Zeiten.
Im Hauptteil werden mehrere Organisationen beschrieben:
Delta Green – eine Ansammlung halbwissender Mythosjäger innerhalb der US-Exekutive
Karotechia – ein paar verstreute Altnazis mit dem Vierten Reich als Ziel
Majestic-12 – die streng geheime Steuerungsgruppe, die UFO-Vorfälle vertuscht
Saucerwatch – eine privat-finanzierte UFO-Ermittlungs-Gruppe
The Fate / The Network – ein mit okkultem Wissen agierendes Verbrechersyndikat
Delta Green
Der TerminusDelta Green beschreibt dabei eine Geheimorganisation, eine Verschwörung innerhalb der US-Exekutive. Delta Green war ursprünglich Teil des CIA-Vorläufers OSS, Nachfolgeorganisation einer Ermittlungseinheit zum Innsmouth-Vorfall von 1928, gegründet um den okkulten Umtrieben der Nazis entgegenzuwirken, und das sogar mit großem Erfolg. Mit dem Auftauchen der Greys, den aus UFO-Literatur und –Geschichten bekannten grauen Außerirdischen, verwickelte sich die US-Regierung selbst in Mythos-Aktivitäten, und Delta Green wurde zerschlagen.
Dennoch lebt diese Organisation als Verschwörung fort, und bekämpft das Okkulte und den Mythos, wo sie nur kann. DG rekrutiert seine Agenten innerhalb verschiedener Regierungsorganisationen, und bietet somit einen glaubhaften Hintergrund, wieso Spieler als Mythos-Ermittler agieren können und wie sie an die passenden Ressourcen hierfür kommen. Gleichzeitig werden Anhaltspunkte für den SL geboten, warum die Spieler oder die gesamte Organisation etwas nicht weiß, ob Wissen vielleicht in der Verschwörung selbst vorliegt, aber nicht weitergegeben wird, oder ob Ermittler sogar bewusst ohne entscheidendes Wissen in den Einsatz geschickt werden.
Jahrzehntelang war DG eine Ansammlung von Cowboys, die lieber ein Mysterium mit Stumpf und Stiel ausrotteten, als etwas darüber zu erfahren. Von dieser Politik der verbrannten Erde hat sich die Verschwörung erst jüngst abgewandt. Dementsprechend mangelhaft ist auch das Wissen der Beteiligten, was den Mythos angeht. Die Spieler sind gewissermaßen immer an vorderster Front, um mehr herauszufinden.
Karotechia
Karotechia ist wohl DGs ältester Gegner. Als das Dritte Reich unterging, war Karotechia der Kern seines okkulten Forschungsprogramms. Angelehnt an historisch belegte Aktivitäten der SS und des Ahnenerbes, war Karotechia der Versuch, mit Hilfe von Mythoswissen den Gang des Krieges zu beeinflussen. Nach dem Krieg verblieb die Organisation als Terrorgruppe, die versuchte, nach Hitlers Tod das Ende der Welt einzuleiten. Von DGs Agenten wurden die meisten Mitglieder dieses Weltuntergangskultes zur Strecke gebracht, doch damit endet die Geschichte nicht.
Drei verbleibende Altnazis haben sich zum Dritten Triumvirat zusammengeschlossen, und Karotechia lebt in Südamerika fort. Das Ziel ist nicht mehr das Ende der Welt, sondern die Errichtung des Vierten Reichs durch den Einsatz von Magie. Karotechia agiert dabei selbst als Verschwörung, und beeinflusst Neonazigruppen und faschistische Regime weltweit. Außerdem kollaboriert die Gruppe mit verschiedensten Verbrechersyndikaten auf der Suche nach okkulten Schätzen.
An einer interessanten Darstellung mangelt es dieser Gruppierung sicher nicht, gerade die Haupt-NSCs sind gut ausgestaltet. Die Nazi-Ideologie ist in ihrer menschenverachtenden Grausamkeit aber fast schon zu stimmig abgebildet. Beim Lesen beschlich mich ein gewisses Unwohlsein. Die deutschen Begriffe, deren Verwendung sich angelsächsische Autoren ja nicht verkneifen können, sind zwar richtig gewählt, aber die fehlende Deklination von Hauptworten, das Geschlecht der Artikel oder mancher zusammengesetzte Begriff („die Lebenstentoten“ — für The Living Dead) wirken beim Lesen natürlich eher erheiternd.
Majestic-12
DGs Gegenspieler innerhalb der US-Regierung ist Majestic-12, eine Gruppe, die auch im Geheimen operiert, UFO-Vorfälle vertuscht und sogar mit den Mi-Go in Gestalt der Greys kooperiert. MJ-12 erhält hierfür Geheimwissen, forscht an Superwaffen, Fluggeräten, usw. Für MJ-12 arbeiten auch die Men in Black, die die Drecksarbeit der Vertuschung verrichten, und auch die hinlänglich bekannten Black Helicopters gehen von dieser Gruppe aus. Hier wird also aus dem überreichen Fundus geschöpft, der im angelsächsischen Bereich als UFO Coverup bekannt ist. Wenn das alleine nicht schon reizvoll wäre, so gibt es da noch ein paar Seitenaspekte:
Zum einen istMJ-12 immer wieder mal mit dem Mythos konfrontiert, ohne das zu wissen. Die Jungs wissen zwar einen Haufen über den illegalen Kram, der hinter den Kulissen abläuft, haben aber keinerlei Ahnung über die wahre Ordnung der Welt – sogar noch weniger als DG, und die wissen schon nicht viel.
Zum anderen weiß die Majestic–Gruppe, dass DG nicht völlig von der Landkarte verschwunden ist. Jenseits der Mythosgefahren sind Majestic’s Handlanger die wahrscheinlichsten Dauergegner, weil sie über haufenweise Ressourcen verfügen. Außerdem ist ihre Agenda oft im Konflikt mit dem Wirken von DG.
Saucerwatch
Saucerwatch ist eher eine Randgruppe dieses Settings, und scheint für die nächste Auflage von DG gar nicht mehr vorgesehen zu sein. Dabei handelt es sich um eine recht professionelle zivile Organisation, und es ist sicher auch denkbar, dass die Ermittlergruppe aus Ufologen besteht anstatt aus Regierungsagenten.
Alternativ wird beschrieben, wie sich Mitglieder dieser Organisation als förderlich oder hinderlich für eine Ermittlung auswirken können. Ein echter Player ist sie jedenfalls nicht.
The Fate / The Network
The Network beschreibt eine Mythosgruppe, die sich in der Welt des Verbrechens von New York ansiedelt. Gesteuert von einem Mythoskult und einem mysteriösen, scheinbar unsterblichen Zauberer, bietet die Gruppe den eigentlichen Syndikaten ihre okkulten Dienste an, andererseits greift sie auch bei Mafia und Konsorten einen Teil der Einnahmen ab. Und wer weiß, was das Netzwerk kann, zahlt gerne.
Beim ersten Überfliegen sprach mich The Fate am wenigsten an, aber im Detail ist diese Gruppe wahnsinnig gut ausgearbeitet, mit einer glaubwürdigen Gliederung und einigen wunderbar mysteriösen Aspekten. So zum Beispiel die Adepten, eine Untergruppierung von relativ hoffnungslosen Gestalten, die einen bizarren Teil der Drecksarbeit machen: Sie erhalten scheinbar völlig belanglose Aufgaben, die sie auf mysteriösem und scheinbar akausalem Wege dann doch mitten in irgendwelchen bedeutsamen Ereignisse verwickeln, wobei sie mitunter auch draufgehen. Von der Spielanlage ist das genial, weil man die Adepten als wirre und sich bizarr verhaltende Pechvögel in irgendwelchen Spielsituationen auftauchen lassen kann. Das macht Stimmung und gibt dem Bizarren des Mythos Gestalt.
Mehr Details zu den Umtrieben der Mi-Go und insbesondere auch von The Fate findet man im Erweiterungsband Delta Green: Eyes Only.
Die Anhänge
Zusammen würde dieses Settingmaterial gerade mal 137 Seiten einnehmen. Der größere Teil des Buches besteht aus diversen Anhängen. So zum Beispiel die ausgezeichnete und kommentierte Bibliographie, ein Glossar von Geheimdienst– und Regierungsslang, und einer Abhandlung über das Gestalten glaubwürdiger Handouts mit passenden Sicherheitsfreigaben. Auch einige Dokumente, die als Mythos Tomes (magische Schriften) gelten können, werden beschrieben, und es gibt sogar Handouts hierzu.
Auf 71 Seiten gibt es außerdem drei Abenteuermodule: Puppet Shows und Shadow Plays, Convergence und New Age. Die erste Geschichte ist die Jagd auf einen Mythoskiller. Sie ist relativ brutal und blutig. Convergence gefällt mir besonders gut. Eine Kleinstadt in Tennessee wird von den Mi-Go für Experimente benutzt. Das Ganze fällt auf, als ein chirurgisch modifizierter junger Mann auf eine Art Amoklauf durch mehrere Staaten geht und das FBI auf den Plan ruft. New Age ist eine zweiteilige Minikampagne mit Anleihen an Sekten, Mythosmagie und auch ein Kleinplanet auf Kollisionskurs darf nicht fehlen.
Allen Abenteuern ist gemein, dass sie sehr gut geschrieben sind und als nicht linear ablaufende Ermittlungen gehalten sind. Meiner Meinung eignen sie sich auch bestens für Konversionen nach Trail of Cthulhu.
Eigentlich wird empfohlen, DG–Teams aus den verschiedenen Geheimdiensten und Behörden zusammenzusetzen, was ich aber bei Kampagnen für wenig praktikabel halte. Bei einer mysteriösen Seuche mag eine Beteiligung des Center for Disease Control Sinn machen, aber wenn man im nächsten Abenteuer einen Drogenring sprengen will, der Junkies opfert, dann braucht man eher die DEA… Die Mischung der Agenten muss zur Kampagne passen. Damit es nicht langweilig wird, sind auf 42 Seiten die meisten Bundesbehörden beschrieben, die auch Geheimdienst– oder Justizbefugnisse haben. Das reicht vom U.S. Postal Service (Zensur) über den National Park Service (kein Scherz) bis zu den großen Namen wie FBI und CIA, sowohl auf der militärischen als auch der quasizivilen Seite. Hier zeigt sich wiederum die massive und akribische Recherchearbeit, die hinter Delta Green steckt.
DG basiert insgesamt auf der 5. Edition von Chaosiums Call of Cthulhu. (Aktuell kann man die 6. Edition kaufen. Für die 7. lief gerade ein Kickstarter.) Es gibt einige neue Skills, ein paar neue Zauber und einen Katalog moderner Feuerwaffen. Die Abwandlung gegenüber den Basisregeln ist damit eher moderat und einem Settingbuch – auch einem so ambitionierten – angemessen.
Preis-/Leistungsverhältnis
Man kann es auf zweierlei Weise sehen: Lässt man die Anhänge weg, so wären die 137 Seiten Settingbeschreibung eher wenig für 20 US-Dollar – mal ganz unabhängig von der Qualität. Aber bewertet man die enorme Rechercheleistung, die in den Anhängen für einen erbracht wurde, relativiert sich das sehr schnell. Hier wird man umfassend bedient und muss nicht mehr wirklich etwas jenseits des Bandes nachschlagen. Man kann direkt aus dem gegebenen Material glaubhafte Szenarien konstruieren.
Zwar mag manches in den Jahren seit ’96 veraltet sein, besonders durch die Umbrüche seit den Anschlägen auf das World Trade Center, aber ganz ehrlich: Wer ist wirklich so ein Experte, dass er die exakten Veränderungen innerhalb der US-Exekutive gegenüber diesem Buch erkennen könnte? Bis zu einem Update oder einem passenden Erweiterungsband ist dieses Produkt sicher sein Geld wert, um moderne Ermittlungsszenarien detailreich darzustellen.
Fazit
Delta Green ist eine wahre Perle unter den Rollenspielen – gut geschrieben, ausgezeichnet recherchiert und stimmungsvoll. Da steckt Herzblut drin, das merkt man! Zumal die Autoren auch heute noch veröffentlichen, genauso wie einige Fans (siehe nächste Abschnitt). Von der Qualität des Inhalts her ist das einer der besten Bände, die ich bis jetzt in Händen halten durfte.
Zuerst dachte ich mir, dass das Buch zu sehr nur Settingbuch sein könnte, und zu wenig Handreiche geboten würde, um eigene Kampagnen zu erstellen. Wer aber die Abenteuer im Anhang gelesen hat, weiß, wie der Hase läuft. Wenn in einem Basisbuch relativ gute Module bereits drin sind, dann ist das immer ein großes Plus.
Eine Anschaffung, die ich sicherlich nicht bereue. Ich habe mich jedenfalls schon ins nächste Buch gestürzt, das meinen positiven Gesamteindruck wieder nur bestätigt hat. Die Autoren haben es geschafft, auf eine respektvolle Weise den Mythos für die 90er und danach zu aktualisieren. Die Mischung aus den Genres Mythos und Mystery ist reizvoll und sehr gut gelungen.
Bonus/Downloadcontent
Es lohnt sich, die offizielle Webseite zu besuchen. Hier gibt es Charakterbögen und frei verfügbares Spiel– und Lesematerial.
Unsere Bewertung
Erscheinungsbild ★★★☆☆
Sieht okay aus, etwas textlastig.
Inhalt ★★★★★
Viel besser geht’s wirklich nicht mehr.
Preis-/Leistungsverhältnis ★★★★☆
Hochqualitativer Inhalt, extrem viel Recherchearbeit in den Anhängen.
Gesamt ★★★★☆
Ein tolles Buch, das in den Schrank jedes Cthulhu- oder X-Files–Enthusiasten gehört.
Artikelbild: Pagan Publishing
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