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https://www.teilzeithelden.de/2023/09/19/rezension-stealing-stories-for-the-devil-montecook-games/
Ocean’s Eleven oder lieber Mission: Impossible? Wolltet ihr schon immer einmal selbst einen solchen Heist-Film erleben und euch an Sicherheitskameras vorbei in einen streng bewachten Safe schmuggeln? Stealing Stories for the Devil verspricht genau diese Art von Action. Inwiefern das Spiel dieses Versprechen hält, haben wir für euch getestet.
Stealing Stories for the Devil ist 2022 erschienen und versteht sich als „Zero-Prep“-Rollenspiel, also als Spiel, das für die Spielleitung mit keinerlei Vorbereitungsaufwand verbunden ist. Es versucht, die schnelle Action und das Gefühl eines Heist-Films in ein Rollenspiel-Regelwerk zu kleiden. Jede Sitzung ist dabei ein eigener Heist beziehungsweise Raubüberfall mit anderem Setting und einem anderen Gegenstand, der gestohlen werden muss. Doch neben Dingen klauen und dabei cool auszusehen, steht dabei auch noch die Zukunft der Realität auf dem Spiel, denn Stealing Stories mischt klassischen Heist-Film mit einer großen Portion Sci-Fi-Elementen.
Für die Charaktere aus Stealing Stories for the Devil gehört ein Casino-Heist zu den leichtesten Aufgaben.
Die Spieler:innen verkörpern sogenannte Lügner:innen: Menschen, die die Realität selbst belügen können, um sich somit kleine Vorteile zu schaffen. Sie sind alle Teil der Crew eines Forschungsschiffes aus dem 39. Jahrhundert, das unter mysteriösen Umständen im Orbit der Erde des 21. Jahrhunderts gelandet ist. Doch auf der Erde läuft so einiges schief: Es existieren sogenannte Improbability-Zonen, in denen die Realität auf verschiedene Weise aus dem Ruder gelaufen ist. Zum Beispiel kann es in einer Zone mehrfach am Tag Frösche regnen. In einer anderen öffnen sich unregelmäßig Löcher im Boden.
Um diese Zonen zu neutralisieren, werden die Charaktere in die Zonen geschickt und müssen das sogenannte Key Object aus der Zone entfernen. Key Objects können alles Mögliche sein, zum Beispiel eine bestimmte Münze in einem Safe, ein wertvolles Gemälde oder ein Stift, den eine Person immer bei sich trägt. Da das Key Object aber immer schwer zu bekommen ist, müssen die Charaktere all ihre Fähigkeiten in die Waagschale werfen, um einerseits einen möglichst coolen Raubüberfall durchzuführen und andererseits nebenbei die Realität zu retten!
Die Spielwelt
Die Welt, in der das Spiel zu großen Teilen stattfindet, ist das 21. Jahrhundert, das wir kennen. Was auf den ersten Blick vielleicht ein bisschen eintönig klingt, ist für den Spielfluss aber durchaus sinnvoll. Da die meisten Spieler:innen sich zumindest ein wenig mit modernen Schlössern, Sicherheitsmaßnahmen und ähnlichem auskennen, gibt es hier schon einmal eine gemeinsame Wissensgrundlage. Außerdem stehen den Charakteren, wenn sie es freischalten, diverse schön beschriebene und lustige Sci-Fi-Gadgets zur Verfügung. Ein Liebling: ein Gerät, das ein Feld generieren kann, in dem die Zeit innerhalb sehr viel langsamer verläuft als außerhalb. Wenn man also noch etwas mehr Zeit braucht, um den komplizierten Safe zu knacken und die Security einem schon dicht auf den Fersen ist, ein sehr nützlicher Gegenstand.
Mehr Sci-Fi gibt es dann auf der Celeste, dem Forschungsschiff, auf dem die Charaktere ihre Überfälle planen. Das Schiff hatte zuvor Paralleluniversen erkundet, wurde dann aber wegen eines Notfalls zurück zur Erde gerufen. Die Beschreibungen des Lebens auf der Celeste sind zwar nicht besonders ausführlich, reichen aber, um sich ein gewisses Bild davon zu machen. So sind die Crewmitglieder entweder Sleeper oder Scions. Scions sind Nachkommen eines Teils der eigentlichen Crew, deren Kälteschlafkammern auf dem Rückweg zur Erde versagt haben. Sleeper hingegen haben die lange Reise sicher in ihren Kammern verbracht. Diese Unterteilung bietet interessantes Rollenspielpotenzial, insbesondere in einer Gruppe, in der beides aufeinandertrifft. Spielmechanisch hingegen sind die Unterschiede eigentlich nicht zu spüren, was ein wenig schade ist.
Auch wenn die Hintergrundgeschichte um Sleeper, Scions und die Celeste durchaus spannend ist, fühlt sie sich an manchen Stellen wie etwas unnötiger Ballast an. Um ein Rollenspiel über Raubüberfälle mit Sci-Fi-Elementen zu kreieren, hätte es auch eine etwas kürzere Geschichte getan, insbesondere da diese Hintergrundgeschichte keinen wirklichen Einfluss auf das Spiel selbst hat. Zwar enthält das Spielleiter:innenhandbuch weitere Hintergründe und eine zwölfteilige Kampagne, in der diese Geschichte eine etwas wichtigere Rolle spielt, aber so ganz rund wird das Worldbuilding dadurch nicht.
Die Regeln
Das Regelwerk von Stealing Stories ist in erster Linie darauf ausgelegt, dass die Charaktere eine besonders interessante Geschichte erleben können, in der sie jederzeit cool wirken, auch wenn mal eine Aktion scheitert. Die Mechaniken basieren dabei einerseits auf Würfeln und andererseits auf Missionskarten, die die Spieler:innen ausspielen können. Insgesamt sind die Regeln flexibel und schnell erlernt.
Anfangs hat jeder Charakter hat zwei Traits, also Charaktereigenschaften, und drei Skills, erlernte Fähigkeiten, in denen er besonders gut ist. In allen anderen ist er average – durchschnittlich. In durchschnittlichen Fähigkeiten hat der Charakter einen W6, den er werfen darf. Je besser er in einer Fähigkeit ist, desto höher die Augenzahl des Würfels. Erfolge werden dadurch erzielt, dass eine bestimmte Hürde („Hurdle“) überboten wird, die die Spielleitung festlegt.
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Beispiel zur Veranschaulichung
Ein Charakter gibt sich vor dem Sicherheitspersonal als neuer Mitarbeiter aus. Er ist gut in Täuschung, würfelt also einen W8. Die Spielleitung überlegt, dass der Wächter immer gut im Bilde ist über neue Mitarbeitende. Also ist das Belügen eine schwere Aufgabe. Der:die Spieler:in muss eine 6 überbieten. Eine 1 wäre ein kritischer Misserfolg, 2 bis 4 ein normaler Misserfolg. 5 bis 6 wäre ein fast-Erfolg: der Wächter nimmt beispielsweise dem Charakter die Lüge nicht ab, anstatt aber direkt den Alarm auszulösen, begleitet er den Charakter einfach wieder nach draußen. Eine 7 ist ein normaler und 8 ein kritischer Erfolg.[/box]
Das flexible Würfelsystem wird hier kurz und praktisch zusammengefasst.
Kämpfe werden nicht in Runden abgewickelt, sondern wie alle Aktionen in Szenen geschildert. Nur in besonders wichtigen Momenten müssen dabei überhaupt Würfel geworfen werden. Das Regelwerk ermutigt dazu, möglichst wenig Würfe zu machen, was perfekt zum high-risk-high-reward-Gefühl eines Raubüberfalls passt. Außerdem wird dadurch die Action stark beschleunigt und man kann wirklich das Gefühl bekommen, in einen Raubüberfall verwickelt zu sein. Allerdings gibt es dadurch weniger Momente, in denen die Spieler:innen rollenspielen können. Tatsächlich geschieht das, wenn überhaupt, eher vor und nach dem Heist. Stealing Stories ist ein Spiel, das den Fokus stark auf Action und Geschichte legt und weniger auf Charakterentwicklung.
Die Missionskarten erlauben es den Spieler:innen unabhängig von Würfelerfolgen, die Geschichte für sich positiv zu beeinflussen. Am Anfang jeder Mission erhalten alle Spielenden jeweils drei Missionskarten, die alle unterschiedlich sind. Diese ermöglichen es, in vielen Fällen einen Wurf zu wiederholen oder einen Würfel zu boosten, also einen höheren Würfeltyp zu werfen. Aber die Spieler:innen sind dazu angehalten, das in die Geschichte einzubinden.
Die Karte I’ve been called worse by better zum Beispiel verlangt von der Person, die sie ausspielt, eine kurze Geschichte aus ihrer Vergangenheit zu erzählen, in der sie in einer ähnlichen Situation war und diese erfolgreich gemeistert hat. Daraufhin darf sie den Würfel boosten. Die mächtigste Karte ist aber die Revelation-Karte. Ganz im Sinne eines Heist-Films kann sie nur ganz am Ende gespielt werden. Wenn etwas wirklich schief läuft für die Charaktere, kann diese Karte die Situation retten, denn sie offenbart, dass das Ganze natürlich Teil des Plans war und die Charaktere für exakt diese Situation vorbereitet sind.
Die Charaktere können die Realität selbst belügen. Das ist aber niemals ohne Risiko.
Die Missionskarten sind eine wirklich gute Ergänzung zu dem einfach gehaltenen Würfelsystem. Sie ermöglichen den Charakteren, die Geschichte auch außerhalb von Würfeln zu beeinflussen und sorgen oft für lustige und kreative Spielmomente. Außerdem sind sie das Element, das am stärksten an klassische Heist-Movies erinnert.
Eine weitere Möglichkeit, sich aus brenzligen Situationen zu retten, ist die Möglichkeit zu lügen. Lügen sind eigentlich kleine Eingriffe in die Realität, die die Charaktere vornehmen können. Und das Schöne daran ist: Lügen funktionieren immer. Plotter, Planner und Schemer greifen jeweils auf andere Weise in die Realität ein. Plotter belügen die Vergangenheit, Planner belügen Objekte und Schemer Menschen. Auch hier werden die Spieler:innen ermutigt, möglichst kreativ zu sein. Die Mechanik klingt zunächst etwas zu mächtig. Natürlich ist das Lügen aber eingeschränkt und kann Stress auslösen. Stress (und Verletzungen) zeigen sich in Verletzungswürfeln, die bei jedem weiteren Wurf mitgeworfen werden und im schlimmsten Fall zu einem direkten Misserfolg führen können. Dementsprechend gilt: je mehr Verletzungswürfel, desto schlimmer.
Charaktererschaffung
Die Charaktere sind schnell erstellt und der Charakterbogen ist dementsprechend übersichtlich. Zunächst entscheidet man sich, ob man einen Sleeper oder Scion spielen möchte. Diese Entscheidung spielt zunächst keine große Rolle, denn erst wenn die Charaktere im Level aufsteigen, gibt es unterschiedliche Optionen. Allerdings sind diese Unterschiede recht gering. Als nächstes gibt es drei Klassen, die bereits erwähnten Schemer, Plotter und Planner.
Der Charakterbogen ist etwas spärlich. Dafür werden aber zu jedem Hintergrund die entsprechenden Fähigkeiten noch einmal kurz erklärt.
Hier merkt man im Spiel tatsächlich größere Unterschiede zwischen den Charakteren. Während ein Schemer einer Person vorlügt, sie sei doch besonders müde und sollte sich definitiv kurz schlafen legen, würde ein Plotter lügen, dass die entsprechende Person vor ein paar Stunden so viel Wasser getrunken hat, dass sie jetzt unbedingt zur Toilette muss. Alle drei Klassen können an sich durch ihre Lügen also ähnliche Dinge bewirken, aber der Weg dorthin ist jeweils ein ganz anderer. Das ist ein spaßiges Konzept, denn so wird niemandem eine bestimmte Aktion verwehrt, solange man es im Sinne der Geschichte vernünftig begründen kann.
Dann sucht man sich zwei Traits und drei Skills aus. Als letztes braucht jeder Charakter noch eine Schwäche, in der er nur einen W4 werfen darf. Hier ist der Charakterbogen dann doch etwas sehr kurz geraten. Anstatt die im Spieler:innenhandbuch abgedruckte Liste der Traits und Skills noch einmal zu wiederholen, gibt der Bogen hier einfach nur drei leere Felder vor. Das bedeutet unnötiges Blättern im Handbuch, vor allem, wenn man noch nicht so sicher im System ist. Auf der zweiten Seite kann man dann die Ausrüstung eintragen, sowie die Advancements. Die Advancements sind das Äquivalent zu einem Leveling-System. Einen gesonderten Bereich für eine Hintergrundgeschichte gibt es nicht. Dafür ist wohl der Notizenbereich angedacht.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Doch nun zur spannenden Frage: Ist für eine Runde Stealing Stories wirklich keinerlei Vorbereitung seitens der Spielleitung nötig? Jein. Stealing Stories ist definitiv kein Rollenspiel, das man auspackt und dann direkt spielen kann. Insbesondere die Spielleitung sollte sich zumindest zwei der drei bereitgestellten Handbücher durchlesen und sich mit den Regeln vertraut machen. Tatsächlich vorbereiten muss man dann aber wirklich fast nichts. Das liegt daran, dass das Spiel von Spieler:innen und Spielleitung gleichermaßen ein sehr hohes Maß an Improvisation verlangt. Sicherlich wird nicht jede Spielrunde daran Gefallen finden. Das Spielleitungshandbuch gibt einem zwar viele hilfreiche Tipps zum Improvisieren an die Hand und natürlich ist Improvisieren auch bei anderen Rollenspielen ein wichtiger Bestandteil. Im Endeffekt muss aber jede:r für sich selbst entscheiden, ob sie:er mit dieser Art von Spiel klarkommt.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Spielleitung und Spieler:innen arbeiten zu Beginn der Sitzung gemeinsam den Ort des Heists und den Plan aus.
Spieler:innen erlaubt das Regelwerk sehr viel Mitsprache, was die Gestaltung des Szenarios angeht. Tatsächlich überlegt sich die Spielleitung im Vorhinein tatsächlich nur den Ort des Geschehens und den zu stehlenden Gegenstand. Der Rest wird zwischen Spieler:innen und Spielenden in der Planungsphase ausgehandelt. Wenn die Spieler:innen behaupten, das zu stehlende Gemälde befände sich im allerersten Ausstellungsraum des Museums, nimmt die Spielleitung das so hin, wirft dann aber eine Komplikation in den Raum: Ja, das Bild hängt vorne im Museum, ist aber hinter einer Panzerglasscheibe gesichert. So geht das dann, bis Spielleitung und Spieler:innen sich über das Aussehen des Ortes verständigt haben und die Spieler:innen einen groben Plan haben. An vielen anderen Stellen fordert das Spiel die volle Aufmerksamkeit der Spieler:innen. Da die Szenen meist ziemlich schnell aufeinander folgen, ist kein:e Spieler:in jemals lange unbeschäftigt. Das gilt auch, wenn die Gruppe sich mal aufteilt.
Spielbericht
Die Runde, mit der Stealing Stories getestet wurde, hatte auf jeden Fall sehr viel Spaß. Für das Erstellen der Charaktere braucht man keinen ganzen Abend einplanen; das kann schnell vor der Runde erledigt werden. Um alle Varianten auszutesten, erstellten die Spielerinnen jeweils einen Plotter, Planner und Schemer. Die Spielerinnen waren mit dem Regelwerk anfangs nicht vertraut, kamen aber sehr schnell zurecht und fingen an, ihren ersten Heist, einen Gemälderaub, zu planen. Die Planungsphase, oder Akt Eins, verlief ziemlich reibungslos. Allerdings verloren die Spielerinnen sich zum Ende hin etwas in Einzelheiten. Außerdem war das von der Spielleitung spontan geschaffene Sicherheitssystem ziemlich hanebüchen. Aber, und das ist in Stealing Stories wichtiger als Realitätstreue, auf erzählerischer Ebene funktionierten die Sicherheitsmaßnahmen auf jeden Fall als „Antagonisten“ zu den Charakteren.
Der Hauptteil des Spiels fand dann in Akt Zwei statt. Hier wurden Schlüssel gestohlen, Wachen ausgetrickst und niedergeschlagen. Auch das Lügen wurde von den Spielerinnen ausprobiert und erfolgreich eingesetzt. Natürlich (wie sollte es auch anders sein) seilte sich schließlich ein Charakter aus einem Lüftungsschacht ab. In Akt Drei, als es noch einmal kurz so aussah, als würden die Charaktere es nicht mehr aus dem Museum herausschaffen, wurde dann die schon erwähnte Revelation-Missionskarte gespielt und das Blatt in der letzten Sekunde gewendet. Nach dem Spiel gab es von den Spielerinnen vor allem positive Rückmeldungen. Eine Spielerin meinte, sie hätte wirklich einen Adrenalinschub gehabt in einer besonders packenden Szene. Die Spielleitung war ebenfalls mit der Runde zufrieden und würde, wenn es sich noch einmal anbietet, definitiv gerne eine weitere Sitzung leiten.
Erscheinungsbild
Das Inhaltverzeichnis am Ende des Buches unterzubringen ist eine seltsame Entscheidung. Dafür sind aber in der PDF die jeweiligen Seiten mit dem Verzeichnis verlinkt.
Wenn man das Spiel als PDF erwirbt, erhält man für circa 35 EUR drei Handbücher als PDF-Datei, außerdem die Charakterbögen (wahlweise mit ausfüllbaren Feldern) und die Missionskarten zum Ausdrucken. Die Handbücher sind interessant und amüsant geschrieben, allerdings ist das Inhaltsverzeichnis jeweils am Ende der Bücher zu finden, was ein wenig irritierend ist. Außerdem gibt es kein Glossar, in dem man schnell Begriffe suchen könnte. Bei einer durchsuchbaren PDF ist dies natürlich eher verschmerzbar als in der Druckvariante.
Die Handbücher sehen auch digital gut aus und sind ansprechend illustriert. Manche Seiten haben aber ein etwas seltsames Format, das sich auf mobilen Geräten etwas schwerer lesen lässt. Das betrifft aber wirklich nur ganz wenige Seiten. Die Print-Version ist eigentlich ein Box-Set, in dem die drei Handbücher, die Missionskarten, Würfel und Handouts enthalten sind.
Stealing Stories for the Devil ist ein action-fokussiertes Rollenspiel, das, nachdem man sich einmal eingelesen hat, ohne viel Vorbereitung gespielt werden kann. Es eignet sich perfekt für One-Shots. Die mitgelieferte zwölfteilige Kampagne liest sich auf jeden Fall gut. Ansonsten bietet sich das Spiel aber eher weniger für längere Kampagnen an. Das Spiel fordert viel Improvisation von Spieler:innen und Spielleitung und ermutigt unter anderem durch Missionskarten zu großer Kreativität. Würfeln ist zwar eine wichtige Spielmechanik, allerdings ist die Anzahl an geforderten Würfen im Gegensatz zu anderen Rollenspielen sehr gering, was die Action schön beschleunigt. Ein besonders spannender Zusatz sind die Missionskarten und die Mechanik des Lügens. Im Gegensatz zum einfach gehaltenen Regelsystem wirkt die Sci-Fi-Hintergrundgeschichte fast ein wenig überladen. Diese kann man aber theoretisch auch ignorieren. Insgesamt schafft es Stealing Stories auf sehr spaßige Weise, einen Heist-Film ins Rollenspiel zu übersetzen und ist definitiv sein Geld wert.
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https://www.teilzeithelden.de/2023/06/05/rezension-warhammer-40-000-imperium-maledictum-mit-kettenschwert-und-intrigen/
Ein zweites Pen-and-Paper-System für Warhammer 40.000? Vom selben Verlag? Braucht es das? Nicht schlecht staunten die Fans der grimmen Zukunft des 42. Jahrtausends, als Cubicle 7 mit Imperium Maledictum ein weiteres System in der düsteren Zukunft ankündigte. Wir haben getestet, ob sich ein weiterer Abstecher in diese Welt lohnt.
Mit Wrath & Glory sollte die düstere Zukunft von Warhammer 40.000, nach langen Jahren des Darbens, ein frisches neues Rollenspielsystem bekommen. Ulisses konnte sich den Zuschlag sichern und veröffentliche 2019 das heiß ersehnte System, denn das beliebte Dark Heresy war längst nicht mehr in Produktion. W6 statt W100, ein schnelles Kampfsystem und maximale Flexibilität für die Gruppenzusammenstellung waren nur einige der Versprechen. Doch der Start verlief holprig und durchwachsene Kritiken begleiteten die Veröffentlichung. Schließlich änderte Games Workshop seine Strategie und vergab die Lizenz neu an Cubicle 7, die bereits die vierte Edition von Warhammer Fantasy RPG verantworteten.
2021 erschien dann eine spürbar überarbeitete Auflage unter der Ägide von Cubicle 7. Seitdem gab es reichlich Begleitmaterial mit neuen Quellbänden, ergänzenden Regeln und Abenteuern. Nach anfänglicher Skepsis der Fans kann man das System als ziemlich lebendig betrachten. Daher kam die Ankündigung von Cubicle 7 vollkommen überraschend, dass man ein weiteres System in der finsteren Zukunft veröffentlichen wird: Warhammer 40.000: Imperium Maledictum. Mehr Fokus auf soziale Interaktionen, deutlich ermittlungslastiger und eine Rückkehr zum W100, wie dereinst in Dark Heresy oder im Warhammer Fantasy RPG.
Doch trotz jubelnder Dark Heresy-Fans stellt sich die Frage: Wie sinnvoll ist ein weiteres System in derselben Welt? Zwar gibt es auch zwei Warhammer-Systeme in einem Fantasy-Setting, doch diese unterscheiden sich allein schon vom Hintergrund, also Alte Welt versus Age of Sigmar. Wir haben den Bolter geladen und das Kettenschwert angeschmissen und uns ins Abenteuer gestürzt.
[spoiler title= "Triggerwarnungen"] Faschismus, Folter, Gewalt, Krieg, Rassismus, Tod, Verstümmelung [/spoiler]
Die Spielwelt
Die Spielwelt von Warhammer 40.000 dürfte, zumindest in groben Zügen, vielen bekannt sein. Wir schreiben das nunmehr 42. Jahrtausend und die Menschheit beherrscht weite Teile der bekannten Galaxie. Leider hat sich dabei nicht der humanistische Weg im Stil von Star Trek durchgesetzt (Wer dies sucht, wird mit Star Trek Adventures glücklicher), sondern das Imperium der Menschheit, ein tief faschistisch-militärisches, korruptes und bis zur Lächerlichkeit bürokratisiertes System. Auf dem fernen Terra, der Erde, herrscht nominell ein Imperator, der seit über 10.000 Jahren an einen Thron gefesselt ist, der ihn am Leben(?) hält und ihn gleichzeitig zu einem Art Leuchtturm im Warp macht, dazu später mehr. Auf Terra glaubt ein Senat zu herrschen, genauso wie einer der Söhne des Imperators, der Primarch und Lord-Regent Roboute Guilliman.
Die Artworks wissen zu überzeugen.
Faktisch herrschen gierige planetare Gouverneure, verbissene Sektor-Militärs oder regionale Adelshäuser, deren oft illegale Aktivitäten in den Mühlen überbordender Bürokratie untergehen. Wäre das nicht schon Gemengelage genug für reichlich Abenteuer, bedrohen noch verschiedene, in der Regel auch nicht sehr nette Alienspezies die Menschen und es drohen noch schlimmere Gefahren aus dem Warp. Der Warp ist jene Parallelwelt, durch die man schnell die Galaxie durchqueren kann, die aber leider auch von Dämonen belebt ist, die sich sehr gerne auch die Realwelt einverleiben wollen. Ihr kennt Event Horizon? Dann könnt ihr euch den Warp gut vorstellen. Garniert wird dies mit einer schier nicht zu überblickenden Anzahl großer und kleiner Fraktionen im Imperium, die alle ihre oft widerstreitenden Ziele verfolgen. In diesen Wahnsinn werden die Spielenden nun geworfen und versuchen nicht nur Probleme zu lösen und dabei nicht zu sterben, sondern auch nicht Opfer der streitenden Fraktionen zu werden, denn im 42. Jahrtausend gibt es weitaus schlimmeres als den Tod.
Die Regeln
Imperium Maledictum nutzt das aus Warhammer Fantasy RPG und anderen Systeme bereits bekannte Prozent beziehungsweise W100-System. Die Charaktere haben dabei Attribute, Fähigkeiten und Spezialisierungen, auf deren (kumulierten) Wert eine Probe abgelegt wird. Ist das Ergebnis identisch mit dem Wert oder darunter, ist die Probe bestanden. Proben können dabei modifiziert werden, um die Schwierigkeit zu senken oder zu erhöhen.
Jeder begonnene Zehnerwert, zählt dabei als Erfolgsgrad. Dieser kann einen weiteren Einfluss auf das Ergebnis der Probe nehmen, sodass man zum Beispiel mehr Schaden in einem Kampf verursacht. Tritt man dabei in einem physischen oder sozialen Kampf, kann es auch zu vergleichenden Tests kommen. Dort werden Erfolgsgrade miteinander verglichen und entscheiden über den Erfolg eines Angriffes. Bei vergleichenden Tests kann es so sogar zu einem Erfolg kommen, wenn man eigentlich gepatzt hat. Der Charakter war zwar schlecht, aber der NSC schlechter.
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Beispiel: Lisa würfelt einen Angriff gegen einen Chaos-Kultisten. Sie nutzt dafür ein Kettenschwert und demzufolge einen Nahkampfangriff. Ihr Wert ermittelt sich aus Weaponskill (32), Melee (10), Spezialisierung Einhandwaffen (10), also 52. Sie würfelt eine 22. Die Zehnerwerte werden subtrahiert 5-2=3. Lisa hat 3 Erfolgsgrade (=Success Level). Der Kultist pariert mit seinem Messer (Wert 40) und würfelt eine 54,
also 4-5=-1. Lisa hat Erfolg und verwundet den Kultisten.
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Apropos Kampf: Hier beginnt, wer den höchsten Initiativewert hat und dann wechselt man sich der Reihe nach ab. In seiner Runde kann man sich bewegen, das schließt in Deckung gehen ein, und hat eine Aktion. Die Aktion kann ein Angriff sein, man kann sich die Aktion zum Ausweichen aufsparen, Zaubern oder eine komplexe Handlung vornehmen, zum Beispiel einen Computer bedienen oder Nachladen. Einfache Aktionen sind jemandem etwas zurufen, die Waffe ziehen oder Handzeichen geben. Neu ist, dass das Kampfgebiet in Zonen aufgeteilt wird, deren Größe die Spielleitung bestimmt, die aber in der Regel einen durchmessen von fünf bis zehn Metern haben sollen. Bewegungen innerhalb der Zone sind immer frei, außer man geht in Deckung. Damit soll mehr erzählerische Freiheit geschaffen werden. Gleichzeitig dienen die Zonen auch als Distanzangabe für Waffenreichweiten. Short ist die eigene Zone, Medium die angrenzende Zone, Long die übernächste Zone und Extreme ist im Grunde unbegrenzt, im sinnvollen Rahmen.
Eine große Neuerung ist das Einflusssystem. Dabei hat der:die Auftraggeber:in der Gruppe einen positiven oder negativen Stand bei anderen Fraktionen des Imperiums, ebenso wie die Gruppe als auch der individuelle Charakter. Einfluss kann man steigern, aber auch verlieren und so ergeben sich im Spiel neue Möglichkeiten. Heute bekommt man noch Zugang zu Transportlisten ohne Probleme, morgen vielleicht nicht mehr, weil man an Einfluss eingebüßt hat. Dies gibt eine spannende weitere Komponente ins Spiel, die Charaktere dazu zwingt, Handlungen wesentlich genauer zu prüfen.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung ähnelt der von Warhammer Fantasy RPG, hat jedoch ein paar gravierende Unterschiede. Dies beginnt damit, dass sich die Gruppe samt Spielleitung eine:n Patron:in erstellt. Diese:r Patron:in vergibt primär die Aufträge und bringt nebst der narrativen Komponente, handfeste Vorteile, aber auch Pflichten mit. Diese Hintergrundcharaktere haben dabei eigene Ziele, die man am besten unterstützen sollte, gewisse Charaktereigenschaften und unterschiedlich Einfluss bei verschiedenen Fraktionen. Zu Beginn kann man bis zu vier Vorteile wählen oder auswürfeln, wie zum Beispiel eine geheime Operationsbasis mit guter Ausrüstung, ein Kommandotrupp als Kampfunterstützung pro Session oder ein eigenes Raumschiff.
Das Blatt für Patron:innen ist überschaubar und selbsterklärend.
Allerdings ist die:der Patron:in vielleicht mit jemand verfeindet oder will, dass man verbotene Artefakte einsammelt. Aus neun Fraktionen mit je zwei Patron:innen kann man dabei wählen, die alle sehr spezielle Dinge mit sich bringen. Mit dabei sind natürlich die Inquisition ebenso wie die Imperiale Garde, aber auch die Imperiale Flotte, Freihändler-Dynastien, das Adeptus Mechanicus (religiöse Techspezialisten) oder Verbrecherorganisationen. Damit ist auch klar, welcher Fraktion des Imperiums man aktuell dient.
Hat man seine:n Patron:in erstellt, geht es nun die Charaktere selbst. Als einzige Spezies gibt es derzeit Menschen. Im Imperium selbst ist das die vorherrschende Spezies, man kann aber davon ausgehen, dass mit Erweiterungen Ogryns (Oger) und Ratlings (eine Art Halbling) Einzug finden werden. Ob Xenos kommen werden, ist noch unklar. Zumindest theoretisch könnten bei den Freihändlern und einigen Inquisitoren Aeldar (Weltraum-Elfen) oder Kroot (Weltraum-Naturvolk) eine Rolle spielen.
Die Rolle im Team ist entscheidend.
Im ersten Schritt der Charaktererstellung werden die Attribute gewürfelt oder anhand einer fixen Punktzahl frei vergeben, es folgt die Herkunft, die einen Bonus auf Attribute gibt und die Auswahl der ursprünglichen Fraktion samt Beruf. Dies bringt erneut einen Bonus auf Attribute sowie Punkte auf spezielle Fähigkeiten, Einfluss und Ausrüstung. Abschließend wähle ich meine Rolle in der Gruppe, darf es eher Verhandler sein oder doch was Handfestes oder eher jemand der mit dem Intellekt arbeitet? Sechs Rollen stehen zur Auswahl und bringen weitere Fähigkeiten, Talente und Ausrüstung. Nun noch Kurzzeit-Ziel (zwei bis drei Spielrunden) und Langzeit-Ziel wählen und es kann losgehen. Die Erreichung der Ziele bringen dabei EP. Wer alles in der Erschaffung auswürfelt, bekommt bis zu 200 Extra-EP, die frei vergeben werden dürfen.
Das Powerlevel ist recht niedrig zu Beginn, kann jedoch auch deutlich höher angesetzt werden, wenn man will. Die Erstellung von Patron:in und einer Gruppe von fünf erfahrenen Spieler:innen, dauerte circa zwei Stunden.
Erscheinungsbild
Cubicle 7 hat sich, wie schon bei der Überarbeitung von Wrath & Glory, für eine weniger comichafte, dafür düstere Aufmachung des Regelwerkes entschieden. Dies war einer der Hauptkritikpunkte am System von Ulisses. Die Illustrationen sind durch die Bank hochwertig und stimmig und vermitteln auch Neulingen einen guten Eindruck der Welt. Der generelle Aufbau ist gelungen und gut nachzuvollziehen, man findet sich sehr schnell zurecht.
Bonus/Downloadcontent
Als zusätzlichen digitalen Inhalt gibt es Charakterblätter, ausfüllbar und hübsch oder druckerfreundlich, Patron:inblätter und eine Karte des Sektors, in dem man agieren kann.
Fazit
Mit Imperium Maledictum nähert sich Cubicle 7 wieder dem beliebten Dark Heresy an und bereichert es um neue und zeitgemäße Aspekte. Das Regelsystem ist dabei Warhammer Fantasy RPG sehr ähnlich und erleichtert den Einstieg für diejenigen, die bereits das Fantasy-System gespielt haben. Bereits bei der Charaktererschaffung merkt man jedoch, dass das System viel stärker auf Kampagnen statt einzelnen Abenteuern ausgelegt ist, im Gegensatz zu Wrath & Glory, dass sich als Action-Rollenspiel versteht.
Damit beantwortet sich auch schon die eingangs gestellte Frage nach der Sinnhaftigkeit eines weiteren Systems in derselben Welt. Wer von Anfang an auf eine längere Kampagne, mit Charakterentwicklung und auch Metaauswirkungen der Handlungen der Charaktere steht und zudem Spaß an reichlich sozialen Inhalten hat, der wird mit Imperium Maledictum sehr glücklich. Als One-Shot oder Pausenfüller kann das System seine Stärke nicht voll ausspielen. Daher kommen wir hier nicht um zwei Bewertungen umhin. Eine glatte 5 bei Kampagnen und eine verdiente 4 für One-Shots. Die Rezension basierte auf einem Spielabend inklusive Charaktererschaffung.
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https://www.teilzeithelden.de/2023/04/15/rezension-99-verdammte-cthulhu-schneller-start-fuer-die-horror-runde/
Detailreich, inklusiv und übersichtlich gestaltet – im Cthulhu-Zusatzband 99 Verdammte von Pegasus Spiele stehen 99 interessante Persönlichkeiten für die eigene Pen-and-Paper-Runde bereit. Die Investigator:innen eignen sich dabei gleichermaßen als Spielcharaktere oder Nebenfiguren der Spielleitung. Mehr zu den spannenden Hintergrund-Geschichten und Ideen im Band erfahrt ihr hier.
Der Tisch ist aufgebaut, die Würfel platziert und das Cthulhu-Abenteuer vorbereitet. Was fehlt, sind noch die Charaktere der Spielenden für die Runde. Aber bleibt bei der Erschaffung der Gruppe noch genug Zeit zum Spielen? Eine schnelle Lösung bietet da der Zusatzband 99 Verdammte von Pegasus Spiele. In diesem finden Spielende eine Reihe an interessanten und schillernden Persönlichkeiten mit allen nötigen Informationen, um sofort loszulegen. Wie gut das funktioniert, hängt von den auswählbaren Charakteren ab. Wer sind die armen Seelen, die sich dem Grauen des Mythos stellen?
Der Inhalt: Welcher Charakter darf es sein?
In 99 Verdammte ist die Vorgabe klar gesetzt: eine große Auswahl an Investigator:innen zeigen, die für eine Pen-and-Paper-Runde verwendet werden können. Insgesamt acht Autoren haben dafür fast eine Hundertschaft an Charakteren erschaffen, die jeweils über ihre ganz eigene Hintergrundgeschichte und Motivationen verfügen. Wie im Vorwort nachzulesen ist, wurden alle Figuren regelkonform erstellt. Einige der Charaktere verfügen über höhere Fertigkeitswerte, was sie zu einer guten Ergänzung in einer fortgeschrittenen Kampagne macht. 27 der 99 Personen hatten zudem bereits Kontakt mit dem Mythos, was bei manchen nicht ohne Nachwirkungen blieb. Damit die Spielleitung nicht umständlich suchen muss, gibt es für die beiden genannten Kategorien eigene Tabellenübersichten in der Einleitung.
Alle Charaktere werden nach dem gleichen Aufbau vorgestellt.
Zur Übersichtlichkeit sind die Berufe alphabetisch sortiert. Alle Charaktere im Band werden in einem einheitlichen Aufbau auf zwei Seiten vorgestellt. Auf der linken Seite finden sich beispielsweise Informationen über Wohnort, Alter, sowie eine kurze Zusammenfassung für die Lesenden. Auch die klassischen Fertigkeiten und Kampfwerte sowie Angaben zum persönlichen Hintergrund werden aufgeführt. Die rechte Seite erzählt ausführlicher die Lebensgeschichte der Investigator:innen und liefert weitere Details. Hinzu kommt eine Übersicht zur Ausrüstung und dem Besitz des Charakters sowie zu den finanziellen Mitteln. Für einen schnellen Start ohne lange Vorbereitung können diese Angaben alle übernommen werden. Den Lesenden wird aber in der Einleitung angeboten, nach Belieben Änderungen vorzunehmen. Schließlich sind die aufgeführten Persönlichkeiten als Schablonen für die eigene Runde am Tisch gedacht.
Inklusiver Horror: Vor dem Mythos sind alle gleich
Besonders hervorzuheben ist die Diversität der Charakterauswahl in 99 Verdammte. Statt mit einer Hundertschaft an Herren abgespeist zu werden, finden sich insgesamt 41 Frauen unter den Investigator:innen. Diese brechen auch bei der Berufswahl aus tradierten weiblichen Rollen heraus und zeigen, dass sie in den 1920ern wie in der Gegenwart auch allein gut für sich selbst sorgen können. Beispielsweise haben Spielende die Möglichkeit, eine Altertumsforscherin, Juristin, Kopfgeldjägerin, Spionin oder Zoowärterin zu verkörpern. Gleichzeitig gibt es klassischere Stereotype wie die Sekretärin oder Bibliothekarin. Hinzu kommen zwei queere Charaktere für eine Cthulhu-Runde in der Gegenwart, die sich gut in einige Settings einbinden lassen.
Von wegen nur Haushalt: Wieso nicht mal eine fähige Kunsträuberin spielen?
Über die geschlechtliche Identität hinaus wurde auch bei der sozialen Schicht auf ein breiteres Spektrum geachtet. Vom bettelarmen Hobo bis zum reichen Müßiggänger sind alle Gruppen der Gesellschaft vertreten. Sowohl aus dem Grundregelwerk als auch aus weiteren Berufe-Bänden wurde hier eine gute Mischung gefunden. Auch für Abenteuer mit kriminellen Einflüssen ist die Auswahl groß. Interessant sind hier mehrere alternative Motive in den Hintergrundgeschichten, wie es zum ersten Gesetzesbruch kam.
Allgemein erhalten die Beschreibungen der Charaktere eine Auswahl diverser Schicksalsschläge, etwa der Verlust geliebter Menschen. Beim Einlesen in die Charakterbeschreibungen finden sich außerdem einige Personen, die körperliche Behinderungen haben. Das hält sie dennoch nicht davon ab, Herausforderungen anzunehmen, okkulte Geschehnisse zu untersuchen und mehr über den Mythos herauszufinden.
Bei allem Lob fällt bei der Lektüre auf, dass der Großteil der Verdammten europäische Wurzeln hat. Zwar gibt es einige People of Colour im Band, diese bleiben aber deutlich in der Minderheit. Dieser Umstand hängt sehr wahrscheinlich mit dem eher von weißen Menschen kontrollierten Gesellschaften in den USA sowie in der Weimarer Republik zusammen. Falls es künftig einen zweiten Band geben sollte, wären mehr Charaktere aus Südamerika, Afrika, Asien, Australien und generell mehr PoC aus aller Welt wünschenswert. Schließlich sind vor dem Mythos alle gleich, auch wenn H. P. Lovecraft das vermutlich anders bewerten würde.
Gruppen der Verdammnis
Ob geteiltes Leid gleich halbes Leid im Cthulhu-Mythos ist, bleibt eine zweifelhafte These. 99 Verdammte bietet aber einige Optionen, um gleich mehrere Persönlichkeiten im Band sinnvoll zu verknüpfen. Unter dem Titel Gruppenkonstellationen der Verdammnis finden sich mehrere mögliche Kombinationen unter den vorgestellten Investigator:innen, die zeitlich, räumlich oder inhaltlich gut harmonieren. Ein Beispiel ist „Vercottis verlängerter Arm“, bei dem alle Charaktere eine mögliche Verbindung zum Gangsterbos Dino Vercotti haben. Dieser ist in den USA der 1920er Jahre aktiv und kann bis zu sieben Investigator:innen rekrutieren, darunter auch einen Boxer und eine Juristin.
„Der Kamborner Klüngel“ hingegen ist in der vergessenen Universitätsstadt Kamborn anzutreffen, die ein eigens geschaffener Schauplatz für die 1920er Jahre in Deutschland ist. Hier sammeln sich um den Offizier Memmel einige Figuren, darunter eine Modezarin, eine Maskierte Rächerin oder ein Geistlicher.
Manche Charaktere haben bereits Kontakt mit schrecklichen Dingen gehabt …
Für Runden in der Gegenwart lassen sich aus den sieben möglichen Charakteren sechs zu einer schlagfertigen Truppe verbinden. Ziel dieser „West Coast Investigators“ in den USA ist es, seltsame Phänomene rund um den Mythos aufzudecken. Dafür kann sich die Profilerin Ayumi Yamada beispielsweise auf die Hilfe einer Alienforscherin oder einer Deprogrammiererin verlassen. Die Autoren regen im Band zusätzlich dazu an, eigene Kombinationen zu schaffen. Dazu finden sich in den Hintergründen mehrere Anknüpfungspunkte. Zwei Charaktere etwa sind eineiige Zwillinge – haben aber sehr unterschiedliche Professionen im Leben gewählt.
Erscheinungsbild
Das für den Test bereitgesellte Hardcover im A4-Format von 99 Verdammte passt optisch schön ins Regal zu den anderen Cthulhu-Bänden. Das Layout ist wie bereits beschrieben effektiv und auf die wesentlichen Punkte beschränkt. Durch den sich wiederholenden Aufbau finden Spielende wie Spielleitungen auch beim schnellen Blättern die nötigen Informationen. Für die Übersichtlichkeit wurde auf den Aufbau nach klassischen Charakterbögen verzichtet. Wer auf eine druckbereite Variante hofft, wird davon enttäuscht sein. Die Informationen können jedoch gut kopiert und auf Papier gebracht werden.
Die hübschen und historisch wirkenden Fotografien der Charaktere werten die Aufmachung des Bandes auf. Pins, Klebestreifen und Klammern bei den als Schmierzettel gestalteten Übersichten zur Ausrüstung sind ebenfalls eine nette Ergänzung. Ein Index sowie ein Lesebändchen helfen sehr, bei den 208 Seiten Inhalt den Überblick zu behalten. Alle Charaktere für eine Runde in der Gegenwart stechen farblich deutlich heraus mit einem blauen Grundton von den sonst bräunlich wirkenden Seiten des restlichen Buches.
Fazit
Die Erwartungen an den Zusatzband 99 Verdammte sind eindeutig: zahlreiche Charaktere präsentieren, mit denen sofort die neue Pen-and-Paper-Runde gestartet werden kann. Diese Aufgabenstellung wird problemlos erfüllt. Alphabetisch sortiert, einheitlich gestaltet und auf zwei Seiten zusammengefasst finden sich im Buch 99 spannende Persönlichkeiten, die auf ihren Einsatz warten. Auch Spielleitungen, die auf der Suche nach einem detaillierten NSC-Konzept sind, können hier schnell fündig werden.
Die Auswahl an Charakteren ist abwechslungsreich und erfreulich divers aufgestellt, was Geschlechter und mögliche Berufe angeht. Auch gesellschaftlich findet sich für alle Schichten etwas. Lediglich der Anteil an Charakteren ohne europäische Wurzeln könnte höher sein. Dieser Umstand ist angesichts des Fokus auf die USA und die Weimarer Republik als Herkunft aber nicht verwunderlich. Positiv sind die vielen Verknüpfungen der Charaktere in Gruppen, was den Start in ein Abenteuer erleichtert.
Die Fotografien vermitteln sofort ein Bild zu den Persönlichkeiten der Charaktere.
Abgerundet wird das Gesamtpaket durch ein solides Erscheinungsbild, bei dem der Fokus auf Übersichtlichkeit gesetzt wurde. Die Charakterbilder helfen dabei, ein Gefühl für die Person hinter den sinnvoll aufbereiteten Werten zu bekommen. Zudem gibt es für alle Investigator:innen eine kurze Hintergrundgeschichte, die oftmals einige spannende Wendungen enthält.
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https://www.teilzeithelden.de/2023/03/24/rezension-avatar-legends-grundregelwerk-wasser-erde-feuer-luft/
Avatar – Der Herr der Elemente ist eine Fernsehserie mit vielen Fans. Wie viele Rollenspieler:innen haben sich gewünscht, diese Welt auf eigene Faust zu erkunden? Nach einer erfolgreichen Kampagne auf Kickstarter ist Avatar Legends jetzt erhältlich. Am Spieltisch in die Welt von Avatar einzutauchen, ist durch dieses gelungene Rollenspielsystem nun möglich.
Die Spielwelt
Avatar Legends spielt in der Welt, die in den beiden Fernsehserien Avatar – Der Herr der Elemente und Die Legende von Korra sowie zahlreichen Comics geschaffen wurde. In dieser Fantasywelt besitzen einige Menschen und andere Lebewesen die Fähigkeit, eines der vier Elemente – Wasser, Erde, Feuer und Luft – zu bändigen, also zu kontrollieren. Unter den Menschen gibt es einen, der in der Lage ist, alle Elemente zu bändigen: der Avatar.
Dieser gilt als mächtigstes Wesen und als Vermittler nicht nur zwischen Menschen, sondern auch zwischen Menschen und Geistern, die in der Geisterwelt leben. Denn der Avatar selbst ist eine Verbindung aus einem Mensch und einem mächtigen Geist. Daher ist er einem Zyklus unterworfen, durch den er nach dem Tod nach einer festen Reihenfolge in der nächsten Nation wiedergeboren wird. Somit hat jeder Avatar Zugriff auf die Erinnerungen seiner vorherigen Leben.
Die bereits angesprochenen Nationen orientieren sich an den Elementen:
Das Erdkönigreich ist die mit Abstand größte Nation und erstreckt sich über den Osten der Welt. Deshalb weisen ihre Landschaft und Bevölkerung die größte Diversität aller Nationen auf. Die Hauptstadt ist das riesige Ba Sing Se, das durch gewaltige Mauern geschützt wird.
Die Feuernation befindet sich auf einer vulkanisch aktiven Inselkette im Westen. Sie ist von allen Nationen technologisch am fortschrittlichsten und weist ein beachtliches Militär auf.
An den beiden Polen leben die Menschen des Nördlichen und Südlichen Wasserstamms. Ihr Leben ist einfach und von den extremen Bedingungen geprägt, die das Leben an den Polen mit sich bringt.
Die Luftnomaden sind in vier für Nichtluftbändiger:innen schwer zugänglichen Tempeln heimisch, die sich in jeweils einer der Haupthimmelsrichtungen befinden.
Die Welt von Avatar. Markiert sind wichtige Orte.
In Avatar Legends kann man diese Welt anhand von fünf sehr unterschiedlichen Ären erleben, die insgesamt mehrere Jahrhunderte mit vier verschiedenen Avataren umspannen: die Kyoshi-Ära, die Roku-Ära, die Hundertjähriger-Krieg-Ära, die Aang-Ära und die Korra-Ära. Zu erwähnen ist hierbei, dass die Zeiträume, zu denen die beiden Fernsehserien spielen, ausgenommen sind. Die Ereignisse der Abenteuer setzen erst danach ein.
Die Regeln
Avatar Legends ist ein Rollenspiel, dessen Fokus deutlich auf den erzählerischen Aspekten liegt und das auf den PbtA-Regeln basiert. So wird erst gewürfelt, wenn eine Aussage oder Handlung der Charaktere einen der „Moves“ (zum Beispiel „assess a situation“, „guide and comfort“ oder „imtimidate“) triggert. In diesem Fall werden 2W6 gewürfelt und addiert. Hinzu kommt der Wert eines der vier Attribute (der zwischen –1 und +3 liegen kann), welches dem Move zugeordnet ist. Ist das Endergebnis größer als 6, hat man einen schwachen Erfolg erzielt, bei einer 10 oder höher einen starken Erfolg.
Ein Fehlschlag, also 6 oder niedriger, bedeutet nicht zwingend einen Misserfolg. Genauso gut kann das gewünschte Ergebnis eintreffen, jedoch gepaart mit einer negativen Konsequenz. Das Bändigen stellt keinen eigenen Move dar, sondern bietet dem Charakter andere Möglichkeiten, mit seiner Umwelt zu interagieren. So könnten Erdbändiger:innen versuchen, jemanden nicht mit Worten, sondern mit dem leichten Beben der Erde unter ihren Füßen einzuschüchtern.
Die Charaktere besitzen keine Lebenspunkte im eigentlichen Sinn, sondern erhalten „Fatigue“ und „Conditions“. Fatigue kann durch verschiedene anstrengende Aktionen, wie etwa im Kampf, angesammelt werden, wobei fünf Punkte das Maximum sind. Würde man, aus welchem Grund auch immer, mehr bekommen, erhält man stattdessen Conditions. Diese sind Afraid, Angry, Guilty, Insecure und Troubled. Für jede angekreuzte Condition erhält man einen Malus auf zwei bestimmte Moves. Sind bereits alle angekreuzt und man würde eine weitere bekommen, so wird man außer Gefecht gesetzt. Charaktertode sind hierbei nicht vorgesehen – es gibt immer eine andere Lösung, was zudem erzählerisch viel wertvoller ist.
An Orten wie diesem können die Charaktere Ruhe finden.
Wichtig für jeden Charakter ist die „Balance“. Sie stellt zwei (scheinbar) gegensätzliche Prinzipien dar, welche die Grundüberzeugungen widerspiegeln. Diese Prinzipien sind an die Playbooks gebunden, die man als eine Art Archetyp verstehen kann und von denen jeder Charakter einem angehört. So sind die beiden Prinzipien des „Guardian“ Selbstständigkeit und Vertrauen. Während der Abenteuer wird es Situationen geben, die den Charakter mehr in die eine oder andere Richtung treiben. Lehnt er sich zu sehr in eine davon, verliert er die Balance – etwas, das weder für ihn selbst noch die anderen Charaktere gut ist.
Kämpfe sind in Avatar Legends nur als letzter Ausweg vorgesehen. Und selbst dann müssen sie nicht zwingend ausgewürfelt werden, wenn etwa von Anfang an klar ist, welche Seite gewinnen wird. Einen Kampf der Charaktere gegen zwei einfache Straßenräuber muss man ebenso wenig auswürfeln wie den Kampf der Gruppe gegen eine Einheit des Feuernation-Militärs. Ist der Ausgang jedoch unklar, kommt es zu „Exchanges“ zwischen den Parteien. Diese kann man sich wie kurze Kampfszenen vorstellen, die aus mehreren Aktionen zwischen Kontrahent:innen bestehen, bevor der Fokus auf andere Kämpfende gelegt wird und so weiter.
Zu Beginn des Kampfes wählen alle eine von drei Herangehensweisen, die sich als offensiv, defensiv und passiv zusammenfassen lassen. Die Herangehensweise bestimmt, welche Aktionen man im ersten Exchange anwenden kann. Sind alle Exchanges abgehandelt, kann eine andere Taktik gewählt werden. Schaden, also Fatigue, wird durch Aktionen der offensiven Herangehensweise erhalten und ausgeteilt.
Über die Spielregeln hinaus vermittelt Avatar Legends auf über 60 Seiten alles Wichtige und viel Interessantes über die Spielwelt und gibt auf weiteren 38 Seiten der Spielleitung alles an die Hand, um das System leiten und eigene Abenteuer erstellen zu können. Für erfahrene SL handelt es sich hierbei eher um hilfreiche Tipps, für neue SL allerdings um nützliche Richtlinien, an denen man sich entlanghangeln kann. Das Gelernte lässt sich am ebenfalls enthaltenen Abenteuer „The Vanishing Act“ austesten.
In der Welt von Avatar gibt es viel zu entdecken.
Charaktererschaffung
Die Basis für die Erschaffung jedes Charakters stellt eines der zehn Playbooks dar. Durch sie wird wertetechnisch das Meiste vorgegeben, doch einige wichtige Entscheidungen gilt es dennoch zu treffen. Jedes Playbook enthält Angaben über die Startwerte der Attribute (eines davon darf um einen Punkt erhöht werden) sowie verschiedene Moves, von denen zwei ausgewählt werden. Neben Vorschlägen zum grundlegenden Auftreten des Charakters und dazu, wie die Verbindungen zu den anderen SC aussehen könnten, besitzt jedes Playbook zwei zu ihm passende Prinzipien, zwischen denen die Balance gehalten werden muss. Sie bestimmen tiefergreifend, wie der Charakter sich verhält.
Das Konzept der Playbooks erklärt – Ein Beispiel: The Bold
Charaktere mit diesem Playbook sind davon überzeugt, dass sie das Potenzial für etwas Großes in sich tragen. Auch wenn sie wissen und es von außen bestätigt bekommen, dass sie noch nicht so weit sind – irgendwann werden sie es sein! Diese Charaktere versuchen, sich zu beweisen. Sie stellen sich als selbstsicher dar, auch wenn dies oft nur eine Fassade ist, um von sich und den eigenen Fähigkeiten zu überzeugen. Dennoch ist nicht alles nur Schein, denn sie sind bestrebt, die Welt zu verbessern – besonders für die Personen, die ihnen am wichtigsten sind.
Die beiden Prinzipien dieser Charaktere sind Loyalität und Selbstvertrauen. Auf der einen Seite kümmern sie sich um andere, manchmal mehr als um sich selbst, und ordnen sich ihnen gar unter, und auf der anderen Seite steht der Glaube an sich selbst, die eigenen Fähigkeiten und somit auch eine gewisse Unabhängigkeit.
Im Playbook selbst heißt es:
„The Bold fights to live up to their self-image and earn others’ trust and confidence. Play the Bold if you want to build your reputation and leadership skills.“
Neben der Wahl des Playbooks ist die Entscheidung, welches Training der Charakter absolviert hat, am wichtigsten. Hier steht das Bändigen eines der vier Elemente, Waffen oder Technologie zur Auswahl. Damit verbunden sind weitere Moves und Spezialisierungen (wie etwa das Metallbändigen), die mit der Zeit erlernt werden können. Zum Schluss werden Aussehen, Herkunft und Verhalten des Charakters festgelegt. Ausrüstung kann frei gewählt werden, wobei sich manches bereits durch das Playbook ergibt.
Mit der Zeit können Charaktere fortgeschrittene Techniken erlernen – wie das Lavabändigen.
Da mit der Wahl des Playbooks aus regelseitiger Sicht das meiste bereits abgehandelt ist, dauert die Erschaffung nur wenige Minuten. Um dem Charakter einen Hintergrund und eine Persönlichkeit zu geben, kann man sich natürlich so viel oder wenig Zeit nehmen, wie man möchte.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Das Regelsystem und die Welt von Avatar passen sehr gut zusammen. Die Regeln sind leicht zu lernen, was Avatar Legends auch für Rollenspielneulinge interessant macht. Der narrative Fokus des Systems ist hervorragend, denn so lassen sich am Spieltisch gemeinsam Geschichten erzählen, die ebenso gut eine Episode aus der Serie sein könnten – so authentisch und nahtlos fügen sich die Handlungen aus dem Rollenspiel ein.
Positiv ist auch, dass Kämpfe meist als optional angesehen werden. Das macht kreativere Optionen attraktiv und schafft mehr Raum für Rollenspiel. Lediglich die Moves können anfänglich einschränkend wirken. Oft möchten die Spieler:innen etwas unternehmen, das nicht durch einen Move abgedeckt, aber dennoch zu wichtig ist, um nicht ausgewürfelt zu werden. Hier ist Kreativität bei der Auslegung der Moves gefragt – und genau diese Freiheit besitzen sowohl SL als auch Spieler:innen in Avatar Legends.
Außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Einfälle.
Das Abenteuer „Earth & Root“ (aus dem Erweiterungsband Wan Shi Tong’s Adventure Guide) bietet der Spielleitung viele Gestaltungsmöglichkeiten. Es werden lediglich die Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Fraktionen und deren Wünsche vorgestellt. Alles andere entwickelt sich am Spieltisch und ist primär spieler:innengeleitet. Railroading gibt es hier keines. Die vorgefertigten SC bestehen nicht nur aus Werten, sondern haben auch kleine Vorstellungstexte, die sie lebendig machen. Die Charaktere passen wunderbar in das Abenteuer, und trotzdem war das Integrieren eines selbst erstellten SC kein Problem.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Auch bei den Spieler:innen ist der Eindruck entstanden, dass das System sich gut in das Avatar-Universum einfügt. Sowohl für Fans als auch für Neulinge gestaltet sich das Einfinden in die Welt und die Regeln leicht und schnell. Ebenso wurde die Diversität der Serien und Comics weitergeführt. So stehen Bändiger:innen keineswegs im Mittelpunkt, und es gibt die Möglichkeit für verschiedenste Charakterkonzepte auch außerhalb des Bändigens. Menschen mit Behinderung werden ebenso einfach integriert und nicht ausgeschlossen.
Menschen, die kein Element kontrollieren können, sind Bändiger:innen keineswegs unterlegen.
Der narrative Ansatz ist zunächst etwas ungewohnt, wenn er nicht dem normalen Spielstil der Mitspielenden entspricht, wurde aber am Ende als sehr positiv empfunden. Die Möglichkeit der Mitgestaltung sowie der spieler:innengeleitete Fokus des Abenteuers und die Wichtigkeit der Dialoge untereinander hat allen gut gefallen.
Das Konzept der Balance ist zu Beginn etwas schwer zu greifen, dennoch ist es spannend und wird gerade bei längeren Kampagnen zusätzliche Tiefe für die Charaktere mit sich bringen.
Spielbericht
Für den Spieltest wurde das Abenteuer „Earth & Root“ aus dem Erweiterungsband Wan Shi Tong’s Adventure Guide gespielt. Es findet während der Kyoshi-Ära in Ba Sing Se, der Hauptstadt des Erdkönigreichs, statt. Drei Charaktere, zwei vorgefertigte und ein selbst erstellter, stürzten sich in das Abenteuer. Doch zuvor wurden noch die Beziehungen untereinander sowie zu zwei wichtigen NSC festgelegt. Insgesamt nahm das Abenteuer etwa drei Stunden in Anspruch.
Wer es noch selbst als Spieler:in erleben möchte, sollte den nächsten Teil überspringen.
Die Charaktere
Jing (Playbook: The Prodigy, vorgefertigt)
Sie ist eine Überfliegerin, die schon in jungen Jahren an der Universität von Ba Sing Se studierte. Jing entwickelt unzählige sonderbare Tränke und Tinkturen. Mit einem offenen Herzen hat sie sich ihrer Freunde angenommen, auch wenn diese so ihre Macken haben – aber Jing kann alles reparieren.
Sarnai (Playbook: The Guardian, vorgefertigt)
Er ist ein eher kurz geratener, junger Mann, dem man das Aufwachsen auf der Straße im unteren Ring von Ba Sing Se ansieht. Besonders der leicht grimmige Gesichtsausdruck, die dunklen, durcheinander zurückgebundenen Haare und die wachen, grünen Augen zeugen von einer eher durchwachsenen Kindheit. Nichtsdestotrotz trägt der Wächter sein Herz auf der Zunge und würde alles für seine Freunde geben, welche mehr eine Familie für ihn sind. Er ist in unauffällige Farben gehüllt und trägt einen Kampfstab bei sich, auf dessen Enden er beliebige Gegenstände oder Waffen schrauben kann.
Cai (Playbook: The Bold, selbsterstellt)
Sie ist eine junge und quirlige Erdbändigerin, die ursprünglich aus dem oberen Ring von Ba Sing Se stammt. Nach einem Zerwürfnis mit ihrer Familie zog sie zusammen mit ihrem Sugar-Glider Qifu in den mittleren Ring. Dort verdient sie ihr Geld als Künstlerin, doch ihre wahre Leidenschaft gilt ihrer zweiten Tätigkeit: dem Instandhalten der gewaltigen Inneren und Äußeren Mauern Ba Sing Ses. Cai hat oft waghalsige Ideen, ist stets darauf bedacht, ihr Bändigen zu verbessern, und will sich anderen – nicht zuletzt ihren Freunden – beweisen.
Earth & Root
Zu Beginn werden die Charaktere von Rangi zu einem dringenden Treffen gebeten. Rangi stammt aus der Feuernation und ist eine enge Vertraute von Avatar Kyoshi. Vor einigen Wochen haben die drei SC ihr geholfen und sie anscheinend nachhaltig beeindruckt. Nun eröffnet sie ihnen, dass Gerel und Keiko, die beiden Kinder der Feuerbotschafterin Quin, entführt wurden. Sowohl die Feuerbändiger:innen unter dem Kommando der Botschafterin als auch die Antikorruptionseinheit (ACTF) der Stadt hatten bisher keinen Erfolg bei der Suche. Letztere nutzen jedoch die Gelegenheit, um reihenweise Verhaftungen im unteren Ring vorzunehmen. Zu allem Überfluss soll Mengyao, eine Freundin der Charaktere, etwas damit zu tun haben. Es steht also außer Frage, dass sie helfen werden.
Zuerst suchen die drei Mengyao in ihrem Zuhause im unteren Ring auf, müssen aber feststellen, dass die ACTF bereits dort ist. Da die Wohnung sich direkt an der inneren Mauer befindet, kann Cai sich mit der Behauptung, es gäbe Sicherheitsbedenken, was den Zustand der Mauer angeht, Zutritt verschaffen. Zwei von Quins Feuerbändigern, die ebenfalls Eintritt verlangen, werden jedoch abgewiesen. Jing verwickelt sie in ein Gespräch und wird in das Teehaus Weißer Kranich im mittleren Ring eingeladen, um dort weitere Informationen zu erhalten. Schließlich stößt Cai wieder zu ihnen. Sie hat herausgefunden, dass Mengyao noch nicht gefunden wurde und dass der Anführer der ACTF Vorbehalte gegenüber Leuten aus der Feuernation hegt – um es milde auszudrücken.
Im Teehaus angekommen stellt sich heraus, dass die Kinder von dort entführt wurden. Ein Pfeil wurde gefunden, der Mengyao zugeordnet werden konnte. Die Charaktere glauben jedoch nicht an ihre Schuld und halten es eher für ein abgekartetes Spiel. Sarnai erfährt schließlich von einem Angestellten, dass dieser nach der Entführung den Geruch von stinkender Nudelsuppe wahrnehmen konnte. Und tatsächlich erinnert Sarnai sich an einen Laden im unteren Ring, der die stinkendste Nudelsuppe der ganzen Stadt verkauft.
Ba Sing Se, die Hauptstadt des Erdkönigreichs, besitzt gigantische Ausmaße.
Das nächste Ziel steht also fest: Gan’s Nudelladen. Dort fällt den Charakteren auf, dass immer wieder Leute eintreten, aber direkt in einem Hinterzimmer verschwinden. Eine von ihnen erkennt Sarnai als Hana, ein Mitglied der Triade „Goldener Flügel“. Die Versuche, selbst in den abgesperrten Bereich zu gelangen, sind erfolglos. Dafür erfahren die Charaktere, dass Lei Fang, der Anführer einer anderen kriminellen Bande, die undurchsichtige Situation nutzt, um Konkurrent:innen auszuschalten.
Nach einigem Hin und Her beschließen die drei, sich auf die Lauer zu legen und Hana abzufangen, wenn sie den Nudelladen verlässt. Tatsächlich gelingt es ihnen, die Frau zu überraschen. Da Hana hoffnungslos unterlegen ist, ist ein Kampf aussichtslos. Leider weiß sie nicht genau, wo die Kinder sind, vermutet sie aber an einem von zwei möglichen Orten.
Die Wahl der Charaktere fällt auf einen leerstehenden Holzlagerplatz. Dort können sie zwei Wachen belauschen. Und wirklich: Gerel und Keiko werden hier festgehalten. Während eine der Wachen den Kindern etwas zu Essen bringt, lenken die SC die andere ab und folgen der ersten. In einer Ecke finden sie ein Erdloch, das Cai mithilfe ihres Bändigens öffnen kann. Sie hält die Wache in Schach, während Jing und Sarnai die Kinder in Sicherheit bringen. Zu fünft schlagen sie sich bis zum Teehaus durch, wo eine überglückliche Botschafterin ihre Kinder endlich wieder in die Arme schließen kann.
Erscheinungsbild
Das Grundregelwerk ist ein hochwertiger Hardcoverband im DIN-A4-Format. Die Schrift ist gut zu lesen, wichtige Begriffe sind hervorgehoben. Viele vollfarbige Bilder und Zeichnungen lassen den Text lebendig werden. Diese stammen teilweise direkt aus den Fernsehserien oder wurden überzeugend im gleichen Stil erstellt. Jedes Kapitel wird mit einer beeindruckenden, zweiseitigen Zeichnung eingeleitet. Inhaltsverzeichnis, Index, zwei Lesebändchen sowie Seitenverweise im Text erleichtern die Navigation sehr. Davon abgesehen ist das Buch inhaltlich logisch aufgebaut. Insgesamt überzeugt es in Aufmachung, Stil und Layout auf ganzer Linie.
Die neuen Charaktere sind so überzeugend, dass sie aus den Serien oder Comics stammen könnten.
Bonus/Downloadcontent
Auf der Internetseite von Magpie Games lassen sich PDFs zu den grundlegenden Regeln sowie die Charakterbögen der Playbooks aus dem Grundregelwerk und Wan Shi Tong’s Adventure Guide zum Ausdrucken herunterladen.
Fazit
Avatar Legends erfindet das Rad nicht neu – das muss es aber auch gar nicht. Vielmehr ist es gelungen, ein Regelwerk zu schaffen, das zur bereits bestehenden Welt von Avatar passt. Damit ist es genau das, was es sein soll: die Umsetzung einer großartigen Fernsehserie in ein großartiges Rollenspielsystem. Auf 300 Seiten bekommt man durchgehend hochwertige Arbeit geliefert. Ein Muss für rollenspielende Avatar-Fans.
Wir vergeben für Avatar Legends fünf von fünf Kohlköpfen.
Dennoch wurde darauf geachtet, ein Produkt zu liefern, das nicht nur für Fans der Serie geeignet ist. Auf mehr als 60 Seiten wird die Welt von Avatar beschrieben und erklärt. Die Regeln sind auch für Rollenspielneulinge gut zu verstehen und fügen sich nahtlos in die Atmosphäre des Settings ein. Man kann das System spielen und genießen, egal, ob man alle Episoden geschaut und alle Comics gelesen hat oder nicht. Es ist keine Voraussetzung, um die Welt von Avatar uneingeschränkt erleben zu können. Das System verfügt über einen sehr niedrigschwelligen Einstieg für alle Rollenspielenden, die auch nur ein bisschen an der Welt interessiert sind.
Und seien wir ehrlich: Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, eines der Elemente kontrollieren zu können?
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https://www.teilzeithelden.de/2022/08/04/rezension-earthdawn-tanz-mit-der-schlange-ulisses-spiele/
Die Earthdawn-Kampagne Tanz mit der Schlange führt die Charaktere in den Servosdschungel, mitten hinein in die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den dort lebenden Stämmen der T´skrang. Dabei werden sie mit Flusspiraten:innen, Slavenjägern:innen, uralten Mysterien und den Gefahren des Dschungels konfrontiert. Schauen wir uns die ersten Schritte des Tanzes genauer an.
Unter den zahlreichen Fantasy-Rollenspielen nimmt Earthdawn eine Sonderrolle ein. Zum einen spielt es auf der Erde vor vielen tausend Jahren, während die Magie noch möglich war. Zum anderen ist Earthdawn eines der wenigen Fantasysysteme, wo Menschen nicht die dominante Spezies sind. Beide Punkte finden sich im vorliegenden Buch wieder.
Die Popularität des Systems wurde mit der 4. Edition, die 2015 herauskam, erneuert. 2018 hat Ulisses Spiele das Spielerhandbuch und Spielleiterbuch auf Deutsch veröffentlicht. Nach und nach wurden mehr Erweiterungsbände und nun der erste Kampagnenband von einem rein deutschsprachigen Autorenteam herausgegeben.
Der Ort der Handlung liegt zentral in Barsaive.
Tanz mit der Schlange ist eine umfangreiche Kampagne, die, genau wie Earthdawn selbst, mit Stereotypen bricht. Im Mittelpunkt des Buches stehen keine Menschenvölker, sondern verschiedene Stämme der T´skrang, ein spielbares Volk der Earthdawn-Welt. Im Verlauf der Handlung werden die Charaktere mit Geschehnissen konfrontiert, die ungewöhnlich für Fantasy-Welten sind, aber die Besonderheiten von Earthdawn hervorheben.
Glossar:
Adepten – Bezeichnung für die Spieler:innencharaktere
Barsaive – Region, in der Earthdawn gespielt wird
Namensgeber – Sammelbezeichnung kulturschaffender Spezies (Menschen, Orks, Obsidianer, Elfen, Trolle, T´skrang, Windlinge)
Niall – Stammesgemeinschaft der T´skrang
T´skrang – Namensgeberspezies mit reptilienhaften Merkmalen
Regeln und Spielwelt
Die Kampagne selbst ergänzt die Spielwelt um eine neue Region. Das Zusammenspiel zwischen der Region, ihren Einwohner:innen und deren Kultur ist ein wichtiger Aspekt der Kampagne. Daher sind der Dschungel und der Fluss als Handlungsort wichtig und werden immer wieder im Verlauf der Handlung eine Rolle spielen. In anderen Regionen würde die Kampagne durch diese Verflechtung nicht richtig funktionieren. Auch ist die Region der Kampagne mit dem Servosdschungel und dem Fluss groß, womit die Charaktere recht viel zu entdecken haben.
Einen großen Regelteil gibt es im Buch nicht. Einige Werte für NSCs und Kreaturen sind über den Text verteilt. Im Anhang des Buches gibt es auch noch ein paar zusätzliche Zauber für Spieler:innen und NSCs.
Inhalt
Am Fluss Galanga, der sich durch den Servosdschungel windet, leben vier große Stämme der T´skrang , die in deren Sprache Niall genannt werden. Die Kultur der Niall ist sehr vielfältig, und besonders bei der Einstellung zu Sklaverei und Piraterie gibt es erhebliche Unterschiede. Die Kernhandlung der Kampagne dreht sich um den beginnenden Eroberungskrieg eines Niall gegen die anderen drei. Die Spieler:innencharaktere werden gleich in die ersten Kampfhandlungen dieses Konfliktes hineingezogen.
Ein Niall der T'skrang, wobei das Wort Dorf oder Stamm bedeuten kann.
In Folge dieses ersten Überfalls fliehen die Charaktere zur nächsten Siedlung. Im Lauf des entfaltenden Handlungsstranges können Verbündete gewonnen und Informationen gesammelt werden, doch kommt es immer wieder zu weiteren Konfrontationen. Dabei offenbaren die Gegner:innen technologische und magische Mittel, die Earthdawn im Allgemeinen und die Kampagne im Speziellen hervorheben. Als Höhepunkt des ersten Kapitels gelingt den Spieler:innencharakteren ein entscheidender Schlag gegen die Angreifenden.
Das zweite Kapitel beinhaltet die Nachwehen der ersten Schlacht und das Aufklären der Hintergründe für die ungewöhnliche Aggression. Infolgedessen werden die Charaktere auf eine Visionsqueste geschickt, um mehr Informationen über die Motive und Hintergründe ihrer Gegner:innen zu sammeln.
In Kapitel Drei begeben sich die SC wieder auf die Suche nach Informationen und Verbündeten, um den finalen Schlag gegen die aggressiven Ambitionen ihrer Gegner zu führen.
Kampagne – Übersicht
Die Kampagne ist für Adepten des vierten Kreises konzipiert, kann aber problemlos an die Stärke der Spieler:innengruppe angepasst werden. Die drei Kapitel bauen klar aufeinander auf, wobei das erste auch weggelassen werden kann. Das ist allerdings nicht ratsam, da dabei einige Informationen und Schlüsselszenen wegfallen. Jedes Kapitel ist in sechs bis elf Akte unterteilt. Kapitel Eins ist klar linear angelegt.
Hier haben die SC wenig Möglichkeiten, selbstständig zu handeln. Im zweiten Kapitel können die Charaktere frei wählen, welchen Handlungsfäden sie folgen, und im letzten Kapitel gibt es eine Mischung aus linearen und variablen Handlungsfäden. Trotz des linearen Aufbaus gibt es aber noch genügend Freiraum für die Charaktere, eigene Vorgehensweisen zu wählen.
Ein Vorteil des Buches sind die gute Struktur und der klassische Spannungsbogen der Handlung. Jedes Kapitel und jeder Akt beginnt mit einem Überblick über die Handlung, der vorherrschenden Atmosphäre und Schlüsselinformationen für den folgenden Abschnitt.
Auf der anderen Seite gibt es kaum Texte zum Vorlesen oder ausgestaltete Szenen. Die Szenen werden oft nur skizziert und müssen von der Spielleitung ausgestaltet werden, was für diese anstrengend werden kann. Bei Herausforderungen in Schlüsselszenen werden immer verschiedene Optionen vorgeschlagen, wie diese anzugehen sind. So wird stets die Wahl zwischen offener Gewalt und listenreichen Vorgehen gelassen. Auch werden bei diesen Schlüsselszenen ebenfalls die Auswirkungen des Scheiterns aufgezeigt.
Diplomatie ist immer eine Option.
Relevante Nichtspieler:innencharaktere werden immer am Ende jedes Aktes beschrieben. Dabei werden immer Darstellungshinweise, Motivation und nützlichen Ressourcen des jeweiligen NCS aufgelistet. Dagegen werden Werte und Beschreibungen für Monster bei Begegnungen im Akt selbst immer auf der gleichen Buchseite eingefügt, was lästiges Blättern spart.
Die Kampagne fügt sich gut in das Earthdawn-Setting ein und ergänzt Barsaive um eine weitere Facette. Die Ausgestaltung der kulturellen Eigenarten der T´skrang ist gut gelungen, ohne in Stereotypen zu verfallen. Wie beim Spielen von Earthdawn allgemein, kann auch bei der vorliegenden Kampagne die Herausforderung auftreten, bei den einheimischen T´skrang nichtmenschliche Klischees hervorzukehren. Doch nicht jede:r T´skrang neigt zu Angeberei und Drama. Hier geben die NSCs im Buch gute Anhaltspunkte zur Darstellung unterschiedlicher Nichtspieler:innencharaktere.
Neues Hintergrundmaterial
Wassergeister können mächtige Feinde oder Verbündete sein.
Die gesamte Kampagne spielt im Servosdschungel und am Galanga-Fluss. Im Buch wird diese Region mit Geografie und Einwohner:innen kurz beschrieben. Auch die Kultur der Einheimischen sowie die Unterschiede der einzelnen Stämme bekommen extra Platz. Allerdings hat die Spielleitung noch genügend Raum für eigene Ausgestaltung.
Im Buch verteilt und im Anhang gibt es noch einige neue magische Schätze, Kreaturen, Reittiere und eine Handvoll neue magische Kräfte, die im Verlauf der Kampagne eine Rolle spielen.
Erscheinungsbild
Das Buch fügt sich in das Ulisses-Layout der vierten Edition ein. Es ist ein Hardcover mit farbiger Karte von Barsaive auf den beiden Innenseiten. Der Rest der Illustrationen ist in gewohnten schwarz-weiß. Die Hälfte der Illustrationen ist neu, die andere Hälfte sind recycelte Bilder aus früheren Büchern, die teilweise einen Nerv für Nostalgie treffen. Auch gibt es kaum Bilder für NSCs. Dafür gibt es eine Handvoll Bilder und Karten zu Orten aus der Kampagne.
Die Struktur des Buches wurde schon weiter oben gelobt. Das Inhaltsverzeichnis am Anfang des Buches und ein Index am Ende erleichtern Suchen im Buch ungemein.
Das Buch hat außerdem ein Lesebändchen, und Handouts sind in separaten Kästen im Text verteilt. Diese hätten allerdings, wie bei DSA-Publikationen, praktischerweise gesammelt auf eine extra Seite am Ende des Buches gedruckt werden können.
Fazit
Tanz mit der Schlange ist eine gelungene Kampagne für Earthdawn, die das Setting gut ergänzt. Die Kultur der T´skrang wird gut und differenziert dargestellt, ohne in Stereotypen zu verfallen. Das Fehlen von Vorlesetexten fällt nicht zu stark ins Gewicht, allerdings erfordert dies wiederum viel Eigenleistung von der Spielleitung, was für neue SL eine Herausforderung darstellen kann.
Die Handlung an sich ist mit einem klassischen Spannungsbogen gut geschrieben und strukturiert. Allerdings fallen die vielen wiederverwendeten Illustrationen auf. Die neuen Bilder zu Handlungsorten sind aber durchaus gut getroffen. Der Preis von 40 Euro für das Kampagnenbuch ist angemessen.
Insgesamt ist das Debüt des deutschen Autorenteams damit gelungen und lässt die Spieler:innenschaft von Earthdawn voller Hoffnung in die Zukunft schauen.
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https://www.teilzeithelden.de/2022/07/31/rezension-the-witcher-a-tome-of-chaos-r-talsorian-its-a-kind-of-magic/
Magie ist in der Welt von The Witcher allgegenwärtig, nicht nur in Monstern und Hexern, sie lässt sich auch in Gegenständen, Elementen und in der Natur finden. Grund genug für Talsorian nun einen eigenen Erweiterungsband zum Thema rauszubringen, der dringend benötigte Hintergründe zu Magier:innen, Druid:innen und Priester:innen liefern soll.
A Tome Of Chaos heißt die neue Erweiterung für das Witcher-Rollenspiel von R. Talsorian. Nachdem sich bisherige Quellenbände auf den Adel, die Kaste der Hexer oder die zu jagenden Monster fokussierten, hat sich A Tome Of Chaos das Thema Magie vorgenommen.
Inhalt
Und über Magie wird in A Tome Of Chaos in all ihren Facetten gesprochen. Neben einer Trennung der Berufe für Druid:innen und Priester:innen und einem eigenen Magier:innen-Lebenspfad enthält das Werk an die 80 neue Zaubersprüche, Rituale und weiteres. Es werden außerdem erstmals neue Hintergründe zur Welt geliefert. Etwa zu den verschiedenen Religionen oder den nilfgaardischen Provinzen. Diese versuchen, bestehende Lücken in der Lore zu schließen.
Als Erzählerin und Erklärerin der neuen Inhalte dient dieses Mal nicht der Hexer Erland von Larvik sondern die nilfgaardische Magierin Glynnis var Treharne. Mit neuen Monstern und einem eigenen, auf Magie fokussierten Abenteuer möchte R. Talsorian den Ausflug in die Welt der Magie abrunden. Ob A Tome Of Chaos dem Witcher-Rollenspiel zu neuen Höhen verhilft oder es sich um einen Sturzflug handelt, lest ihr im Test.
Trio Infernale –Magier:innen, Druid:innen und Priester:innen im Fokus
In den ersten Kapiteln dreht sich alles um die in Zauberei bewanderten Magier:innen, erzreligiöse Priester:innen und naturverbundenen Druid:innen. Es werden Hintergründe zur Entstehung der Kasten geliefert. Ebenso verschiedenes zur magischen Ausbildung in den Schulen von Aretuza, Ban Ard sowie die imperiale Akademie von Gweison Haul. Hier lässt sich außerdem einiges über die nilfgaardische Mentalität in Erfahrung bringen.
Die zahlreiche Vorstellung von Ausbildungsmöglichkeiten und Berufsfeldern bei Magier:innen bereitetet alles vor für den eigenen Magie-Lebenspfad. Ähnlich, wie es Lesende von den Hexern kennen, wird erst die Kindheit, später für ein Jahrzehnt im Leben eines Charakters grob gewählt, wie „risikoreich“ er:sie gelebt hat. Magisches Experimentieren ist am gefährlichsten, politisches Ränkespiel ein bisschen sicherer, aber nicht vielMit der Haltung „vorsichtig“ ist die Chance hoch, dass der Charakter keine Gliedmaßen verliert oder sich neue Todfeinde schafft – aber eben auch ohne Vorteil aus dem Jahrzehnt hinausgeht.
Die Würfelwürfe beantworten dann auf mannigfaltige Art und Weise, wie die Magie entdeckt wurde, wie die eigene Familie dazu stand, unter welchen Mentor:innen man ausgebildet wurde und vieles mehr. Mit der zeitintensiven Art der Charaktererstellung ist das Regelwerk bisher gut gefahren. Die Ausweitung berufsspezifischer Lebensläufe scheint logisch, übernimmt gleichwohl die Müßigkeit, für einen 200 Jahre alten Charakter 20 Würfeldurchgänge zu tätigen, bis gespielt werden kann.
Das Kapitel zu Priester:innen dreht sich vor allem um organisatorische Strukturen und führt in die sechs verschiedenen Religionen auf dem namenlosen Kontinent ein. Neben aus dem Kanon bereits bekannten Glaubensrichtungen wie der Kirche des ewigen Feuers oder dem Kult der Großen Sonne, werden auch neue Naturgottheiten wie Dana Meadbh oder Kreve vorgestellt, die sich bekannter Konzepte wie Göttin der Fruchtbarkeit oder Gott des Krieges bedienen. Dabei wird darauf geachtet, sie passend in die Welt von The Witcher einzuflechten.
Die Vorstellung der druidischen Klasse läuft vor allem so ab, dass Unterschiede zwischen ihnen und den Priester:innen herausgearbeitet werden. Während Priester:innen in organisierten Orden arbeiten, leben die Druid:innen zurückgezogen auf dem Land, wo sie die Balance zwischen Natur und Zivilisation aufrechtzuerhalten versuchen und der Landbevölkerung mit Rat und Tat zur Seite stehen. Angereichert wird der Abschnitt mit Hintergrundinformationen zu druidischen Zirkeln in Angren, Toussaint oder dem Krähen-Klan von Skellige.
Insbesondere Naturmagie wurde vom Grundregelwerk vernachlässigt. Mit der Druid:in wird einiges nachgeliefert.
Abschließend werden einzelne, „niedere“ magische Begabungen vorgestellt, wie etwa die Möglichkeit, Tiere zu beruhigen, oder Pflanzen schneller wachsen zu lassen. Das Ganze sind kleinere Talente, die die Omnipräsenz von Magie jedoch auf sinnvolle Art und Weise auch in anderen Charakteren erkennbar werden lassen.
Etwas enttäuschend bleibt die Tatsache, dass die neuen Berufsfähigkeiten nur in Teilen neu sind. Der bisherige Priester:innen-Fähigkeiten-Baum teilte sich in Prediger, Druide und Fanatiker. Prediger und Druide bilden jeweils die Basis für ihre neuen Fokusbäume. Auch der Fanatiker wurde übernommen. Es sind also nur neun neue Berufsfähigkeiten, anstelle möglicher 18 – eine kleine Mogelpackung.
Zwei (Kapitel) mögen Pech und Schwefel – Magische Zutaten und Zaubersprüche
Mit 52 neuen Zaubersprüchen vergrößert A Tome Of Chaos die Möglichkeiten für Magier:innen enorm. Die meisten Sprüche scheinen gut gelungene Erweiterungen zu sein und beschränken sich nicht nur auf den Kampf. So wird mit „Fergus‘ Niedergang“ zum Beispiel ermöglicht, das Gegenüber mit magischen Nadeln einzuschüchtern, wodurch Verhöre über Magie wirken und nicht über die eigentliche Fähigkeit laufen.
Manche Sprüche wirken allerdings auch so simpel, dass es ein einfacher Wurf auf über Magie wirken an dieser Stelle auch getan hätte, um das System nicht noch weiter zu verkomplizieren. Etwa wenn es um die Erkennung magischer Ley-Linien geht, ein Aspekt welcher am Anfang des Buches als grundlegend und essenziell für jede:n Magier:in eingeführt wurde.
Auf dem „zweiten Platz“ landen die Priester:innen mit 18 neuen Zaubersprüchen, die Druid:innen auf dem vorletzten Platz mit 15 und überraschenderweise bekommen sogar die Hexer zwei neue Hexerzeichen spendiert.
Vollends auf ihre Kosten kommen Kämpfende beim magischen Marktplatz, wo mit Runen und Glyphen Schwerter, Streitäxte und Bögen magisch geschmiedet werden. Dann können die Waffen mittels Magie Opfer in Brand setzen, oder eine gewisse Menge an Stamina wiederherstellen, wenn mit ihnen getötet wird.
Noch hilfreicher und dazu erschwinglicher ist die Möglichkeit, dass nun auch Hexer-Tränke sowie Trophäen mit ihren starken Boni von Nicht-Hexern genutzt werden können, nur heißen diese nun Elixiere, Trophäen behalten sogar ihren Namen. Auch an dieser Stelle wurde daran gearbeitet, für Klassen abseits der Hexer Möglichkeiten zur Vor- und Nachbereitung auf Kämpfe zu liefern. Es wäre schön zu sehen, sollte dies dazu führen, dass Runden mitunter ohne einen Zwei-Schwerter-Schlächter auskommen.
Da braut sich was zusammen … Neue Zaubersprüche und Tränke ergänzen die Lore-Hintergründe.
Weiterhin wurde eine kleine Menge magischer Gegenstände hinzugefügt, deren Bandbreite von Amuletten bis hin zu Megaskopen, eine Art der magischen Videokommunikation, reicht und erläutert.
Mit für R. Talsorians Witcher-Bücher bisher ungewohntem Body-Horror-Niveau kümmert sich das Kapitel „Dunkle Künste“ um verbotene Formen der Magie, wie etwa Nekromantie, Dämonologie oder die Schaffung eigener mutierter Wesen. Das Kapitel ist mit Triggerwarnungen versehen und auch im Text wird klar, dass die Nebenwirkungen jener Form von Zauberei fatal sein können und bestenfalls als Ultima Ratio dienen. Dennoch trägt es zum Realismus innerhalb der Welt bei, da es natürlich genug Magier:innen gibt, für die der Zweck jedes Mittel heiligt.
Kleine Monster und Magier:innen-Fibel
Im Kapitel zu bekannten Magier:innen geben sich das „Who is Who“ der Szene den Stab in die Hand und werden samt Werten, Inventar und besonderen Fähigkeiten vorgestellt. Von den 16 Einträgen der „Magipedia“ sind neun bekannte Gesichter wie etwa die Elfin Francesca Findabair oder Stregobor dabei. Außerdem finden sich sieben Eigenkreationen im Buch, die leider etwas farb- und lieblos hinzugefügt worden sind, um möglichst viele nilfgaardische Provinzen abzudecken, denen aber ebenfalls noch Hintergrundgeschichte fehlt. So bleiben die fast ausschließlich männlichen Zauberer generische Fantasy-Abziehbilder – hier wäre mehr drin gewesen. Von Priester:innen oder Druid:innen fehlt dann außerdem wieder jede Spur.
Wie ein guter Ghostbuster, dürfen auch magisch begabte Personen keine Angst vor Geistern und dunkler Magie haben.
Das Bestiarium ist dieses Mal ebenfalls mehr Pflichtaufgabe, da es sich um Monster handelt, auf die sich im Buch, wie auch im beigelegten Abenteuer zurückbezogen wird. Die sieben Wesen sind eines finsterer als das andere. Sehr viele Dämonen verstärken die Riege an Metzel-Möglichkeiten. Insgesamt ist dies aber nur eine notwendige Beilage und kein eigenständiger Punkt des Buches, wie etwa beim Witcher Journal.
Abenteuer: A Binding Clause – Magie verpflichtet
Eine praxisorientiertere Einführung in die dunklen Künste erhalten Spieler:innen im Abenteuer „A Binding Clause“. Hier hat es sich ein Dämon in einem rivischen Weiler gemütlich gemacht und lungert jeden Abend vor dem Haus derselben Familie, welche sich nun nicht mehr aus dem Haus traut. Die abergläubige Landbevölkerung hält die Familie für verflucht, wodurch der Ort kurz vor einem Pogrom steht.
Das Abenteuer ist eine der positiven Überraschungen des Buches. Insbesondere da der eigene Geschichtenband von R. Talsorian ein unvollständiges Tohuwabohu war. Die Prämisse ist spannend, es gibt die witchertypischen Graustufen und Themen, sogar das sonst übliche Railroading scheint ausnahmsweise auf ein Minimum reduziert, wenngleich es manchmal noch durchscheint („Wenn xy getötet wird, sofort zum Ende springen“).
Erscheinungsbild
Die Bilder in A Tome Of Chaos decken eine Vielzahl an Stimmungen ab.
A Tome Of Chaos nutzt den aus den Magiekapiteln im Grundregelwerk bekannten Mix aus Purpur und Weiß als Hauptfarben im Layout. Das ist für das Auge angenehmer, als es im ersten Moment klingen mag. Trotz der zahlreichen Tabellen und Seitenhinweise ist die Orientierung im Buch einfach, der Index an seinem Ende unterstützt dies. Auf den 214 Seiten finden sich einige Illustrationen, die ein Potpourri an Figuren aus den Videospielen, der Serie oder den Büchern darstellen, wie auch eigene Figuren. Die Grafikstile sind dabei ein ebenso großer Mix wie die Anzahl der dargestellten Figuren, halten sich aber die Waage zwischen düster-seriös und heiter-leicht – so wie eben die Magie im Buch auch.
Fazit
Mit A Tome Of Chaos scheinen sich die Erweiterungen zum Witcher-Rollenspiel endlich in die richtige Richtung zu bewegen. Es wird eine Menge Inhalt geboten, auch wenn kleinere Teile davon aus dem Grundregelwerk recycelt wurden. Hexer-Spielmechaniken werden logisch auf andere Klassen ausgeweitet, wie etwa die auswürfelbaren Lebensläufe oder Tränke. Die Hintergrundgeschichte der Welt wird ebenso ausgearbeitet wie auch einige der vorgestellten Orte, zum Beispiel die Magie-Schulen.
Viele neue Zaubersprüche bringen Abwechslung für Magier:innen, bewegen sich jedoch auf der dünnen Linie zwischen sinnvoll und Spruch-Sammelwahn.
Die Kapitel zu Monstern und bekannten Magier:innen sind eine notwendige Beilage zum Rest des Buches und stechen nicht wirklich hervor.
Überraschend düster ist das beigelegte Abenteuer gut gelungen und leidet nur noch wenig am Railroading, wie es noch im Book Of Tales der Fall war.
Vollends verzaubert A Tome Of Chaos nicht, dessen PDF-Preis mit 17,34 EUR außerdem verhältnismäßig stark zu Buche schlägt (das Grundregelwerk kostet 24,99 EUR). Insgesamt tut es aber gut daran, einen Teil der Magie des erstmaligen Spielens und Erkundens in der Welt von The Witcher wiederherzustellen.
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https://www.teilzeithelden.de/2022/05/26/ersteindruck-achtungcthulhu-2d20-modiphius-horror-im-zweiten-weltkrieg/
Cthulhu im Zweiten Weltkrieg - das ist die Welt von Achtung!Cthulhu. Spielende schlüpfen in die Rolle von alliierten Kämpfer:innen, die die Welt nicht nur vor Nazi-Kultist:innen sondern auch vor Kreaturen des Mythos beschützen müssen. Seit letztem Jahr gibt es diese düstere Spielwelt auch für das 2D20-System.
Seit etwas mehr als einem Jahr ist Achtung!Cthulhu 2D20 nun schon auf dem internationalen Markt. Es ist ein Pulp-Horror-Setting, das zuvor schon mit den Regeln von FATE und der 6. Edition von Call of Cthulhu zu haben war und das nun mit dem 2D20-Regelsystem von Modiphius kombiniert wurde, unter dem schon allerlei andere Rollenspiele erschienen sind. Wann es eine deutsche Übersetzung geben wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar.
Der folgende Ersteindruck basiert auf der Lektüre des Gamemaster's Guide und Player's Handbook sowie dem Erstellen von drei Charakteren mit den Teilzeitheld:innen Norbert, Marie und Alexa.
Der Mensch ist nicht die einzige intelligente Spezies in der Welt von H.P.Lovecraft
Die Spielwelt: Doppelt hält besser!
Die Charaktere in Achtung!Cthulhu 2D20 haben es nicht leicht. Zum einen leben sie in der Welt des H.P. Lovecraft, in der neben Menschen noch andere intelligente Spezies auf der Erde existieren, die stärker, älter und viel, viel bösartiger sind als der gemeine H. sapiens, und zudem noch außerirdische Gottheiten ihr Unwesen treiben. Zum anderen müssen die Held:innen auch noch die freie Welt im Kampf gegen Nazideutschland verteidigen. Beides ist, wie man sich leicht vorstellen kann, für die geistige wie körperliche Gesundheit eher schädlich. Das Player's Handbook enthält eine Beschreibung des Settings, die allerdings knapp genug bleibt, um Spoiler zu vermeiden. Der größere Teil dieses Buches besteht aus den grundsätzlichen Würfel- und Kampfregeln sowie den Regeln zur Charaktererschaffung. Viel detailliertere Informationen über die gegnerischen wie auch die verbündeten Fraktionen im "Geheimen Krieg" stehen im Gamemaster's Guide.
Die Prämisse ist einfach: Da wurden die Szenarien klassischer Cthulhu-Spiele aus den 1920er in die 1940er Jahre und an die Fronten des Zweiten Weltkriegs verlegt und mit einem Schuss Dieselpunk garniert. Wer hier ein plumpes Pulp-Rollenspiel erwartet, in dem strahlende alliierte Held:innen links und rechts mit Tentakelmonstern verbündete Nazibatallione zerlegen, irrt sich: Das Setting ist in der Tat subtiler und erinnert im Ton mehr an Call of Cthulhu als Hollow Earth Expedition. Die Autor:innen des Systems haben ihre Geschichte-Hausaufgaben gemacht und orientieren sich in der Rahmenhandlung grob am tatsächlichen Verlauf des Krieges, ohne sich mit historischen Details übermäßig aufzuhalten - es sei hier verziehen, dass bei aller Aufmerksamkeit die berüchtigte Wewelsburg bei Paderborn von Westfalen nach Bayern verlegt wurde. Und auch der Cthulhu-Mythos ist fester Teil der Spielwelt: Orte wie Arkham und Innsmouth existieren ebenso wie das entsetzliche Plateau von Leng in den Traumlanden.
Dies bleibt allerdings den meisten Menschen verborgen: Normalerweise begegnen dem Mythos nur außergewöhnlich begabte, verrückte oder vom Unglück verfolgte Personen. Selbst ein Weltkrieg läuft im Allgemeinen auch ohne den Einfluss außerirdischer Götter. Jedoch gibt es darüber hinaus auch noch den "Geheimen Krieg", der quasi unter der Oberfläche, beziehungsweise unter dem Deckmantel des normalen Kriegsgeschehens stattfindet. Und weil doppelt genäht immer besser hält, kämpfen die Charaktere nicht gegen eine, sondern gleich gegen zwei Fraktionen von Mythoswesen und zudem auch zwei verschiedene Gruppierungen von Kultist:innen auf der Seite von Nazideutschland.
[spoiler]Die Deep Ones, bekannt aus Lovecrafts The Shadow over Innsmouth, kämpfen vor allem gegen die Übernahme ihres unterseeischen Lebensraumes und ihrer heiligen Stätten, während die insektoiden Mi-Go die Erde selbst erobern würden. Auf der Seite der Nazis verfolgt der Kult der Schwarzen Sonne insgeheim das Ziel, den Alten Gott Yog-Sototh zu befreien, die "Nachtwölfe" hingegen kämpfen mit atlantischer Technologie für Adolf Hitler - aber auch gegen die Schwarze Sonne, die, wenn sie ihr Ziel erreichte, das Ende der Welt einläuten würde.[/spoiler]
Auch die Alliierten setzen im Kampf gegen Mythoskreaturen magische Gegenstände ein - zum Beispiel verzauberte Dudelsäcke.
Dem Thema der Dopplung folgend gibt es denn auch zwei spielbare Fraktionen auf Seite der Alliierten: Die britische Section M, gegründet von einem exzentrischen Lord mit exorbitantem okkulten Wissen und nicht minder exorbitantem Vermögen, verteidigt das Vereinigte Königreich von 1939 an. Das amerikanische Department Majestic springt, widerwillig vom Oberkommando der US-Armee mitfinanziert, den britischen Verbündeten erst im späteren Verlauf des Krieges bei, dafür aber mit großer und sehr experimenteller Feuerkraft. Die SC sind dabei nicht an die Grenzen der Vorurteile der bespielten Zeit gebunden: Beide Sektionen setzen laut Beschreibung explizit Menschen aller Geschlechter, Hautfarben, Ethnien und Religionen ein - eine willkommene Abweichung von der rassistischen Weltsicht des H. P. Lovecraft.
Neben Soldat:innen und Widerstandskämpfer:innen brauchen sie auch Spezialist:innen mit Fähigkeiten, die mehr dem klassischen Cthulhu-Charakter entsprechen, etwa in der Archäologie. Die SC sind Angehörige von Spezialkommandos und damit zwangsweise keine strahlenden Pulp-Held:innen: Vielmehr wird von ihnen erwartet, dass sie tun, was eben getan werden muss, um den Krieg zu gewinnen, selbst wenn dies bedeutet, unkonventionelle und bisweilen auch moralisch fragwürdige Methoden anzuwenden.
Das System verwebt gekonnt historische Elemente mit Mythos-Klassikern sowie einigen bis heute beliebten Verschwörungsmythen über angebliche geheime Superwaffen des Zweiten Weltkriegs. Es ist detailreich, lässt der SL aber genug Platz, um eigene Ideen einzubringen.
Die Regeln
Das Haussystem von Modiphius wurde schon für diverse Rollenspielsettings verwendet. Es verbindet narrative Elemente mit festen Regelbestandteilen und ist dabei nicht mit Rechenübungen überfrachtet. Bei Achtung!Cthulhu2d20 stehen die Würfel- und Charaktererschaffungsregeln im Player's Guide und werden im Gamemaster's Guide nur noch einmal zusammenfassend wiederholt, was zu ärgerlichem Blättern führen kann, wenn man die beiden Teile des Regelwerks nur als physische Bücher besitzt. Auch bei zwei nebeneinanderliegenden PDFs ist es nicht gerade praktisch. Fairerweise muss dazu gesagt werden, dass der Gamemaster's Guide allein schon nah an die 300 Seiten kommt, daher kann man dies wohl verzeihen.
Das System begünstigt das Überleben der Charaktere, auch wenn es nicht immer so scheint.
Eine Probe besteht - wenig überraschend - im Allgemeinen aus mindestens 2W20. Diese müssen einen Schwellenwert unterwürfeln, der sich aus den Werten des zur Probe passenden Attributs und der entsprechenden Fertigkeit des würfelnden SC errechnet. Jeder Wert, der den Schwellenwert erreicht oder darunter liegt, gilt als Erfolg. Eine gewürfelte 1 entspricht einem doppelten Erfolg. Im Falle, dass eine 20 gewürfelt wird, kommt dafür eine so genannte Komplikation hinzu - eine negative Konsequenz wie der Verlust einer wertvollen Ressource. Die SL legt fest, wie viele Erfolge gebraucht werden, um die Schwierigkeitsstufe zu erreichen. Hilfe durch andere Spielende und eine Spielmechanik namens Momentum können der würfelnden Person weitere W20 geben, sodass auch Proben mit einer Schwierigkeit von 3 oder höher zu schaffen sind.
Das Würfelsystem begünstigt allgemein den Erfolg der Held:innen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so scheint. Kollege Holger hat eine detaillierte Betrachtung zu den relativen Erfolgswahrscheinlichkeiten der SC im 2D20-System geschrieben. Angesichts des Settings von Achtung!Cthulhu ist es allerdings vielleicht sogar zu begrüßen, dass Begegnungen der Charaktere mit Mythoswesen oder durch dunkle Magie und außerirdische Wissenschaft aufgeputschten Fanatiker:innen nicht ständig im Total Party Kill enden. Ein bisschen Pulp bleibt also doch im System, auch wenn dies Cthulhu-Purist:innen wie Blasphemie vorkommen mag.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung in Achtung!Cthulhu 2D20 läuft schrittweise ab. Zuerst wählen Spielende den "Archetype" ihres Charakters, also in etwa seine Klasse, seine Herkunft und dann den "Background" (Hintergrund), also in etwa seine Lebensgeschichte beziehungsweise seinen Beruf vor dem Krieg. Dazu kommt noch eine "Characteristic" (Eigenschaft), die den Charakter weiter personalisiert. Das kann eine körperliche Eigenheit sein, eine geistige Eigenheit wie "Bookworm" (Bücherwurm) oder aber ein Detail der Vergangenheit des Charakters, wie eine Kindheit auf der Straße. Die einzelnen Schritte geben dem Charakter Boni auf Attribute und Fertigkeiten, Spezialisierungen, Talente, Equipment oder so genannte "Truths" (Wahrheiten), die ihn näher beschreiben - dazu gehören etwa die Sprachen, die der Charakter spricht. Das Powerlevel des Charakters kann variieren, je nachdem, wie gut die einzelnen Schritte aufeinander abgestimmt sind. Wenn allerdings keine außergewöhnlichen hohen Werte erreicht werden, hat der Charakter dafür eine breitere Basis.
Der letzte Schritt enthält eine praktische Zusammenfassung, in der die Gesamtzahl der vergebenen Punkte noch einmal zusammengerechnet wird, sodass sichergestellt ist, dass nichts vergessen wurde. Das ist leider auch notwendig, weil das Auswählen von Talenten, Wahrheiten, Equipment und Spezialisierungen bei den verschiedenen Schritten von ständigem Blättern bzw. Scrollen gekennzeichnet ist, was die Charaktererschaffung bei aller Einfachheit doch etwas langwierig macht. Ein Abend dafür ist vor Spielbeginn zu empfehlen.
Für jeden Schritt gibt es außerdem eine W20-Würfeltabelle. Wer also keine Inspiration für den einen oder anderen Schritt hat, kann den Zufall entscheiden lassen. Natürlich kann man das Grundgerüst des Charakters so auch ganz auswürfeln. Das Ergebnis kann im Einzelfall etwas seltsam werden. In der Welt des Cthulhu-Mythos ist "seltsam" allerdings kein Hinderungsgrund.
Die Charaktere müssen nicht unbedingt Soldat:innen sein.
Erscheinungsbild
Das Layout der beiden Teile des Grundregelwerks spiegelt die Stimmung der Spielwelt wider. Der Hintergrund ist in graubeiger Papieroptik gehalten, mit Highlights in kühlem Blau für den Gamemaster's Guide und militärischem Khakigrün für den Player's Guide. Beide Bücher sind verständlich gegliedert und besitzen ein übersichtliches Inhaltsverzeichnis, das aber leider im PDF nicht interaktiv verlinkt ist. Der Fließtext ist gut zu lesen und verständlich geschrieben, Zusatzinformationen stehen in Seitenkästen und übersichtlichen Tabellen.
Wie an den Rand gekritzelt zieren Zitate beide Bücher, bisweilen solche von Charakteren aus der Spielwelt, zum Teil aber auch historische Zitate, und immer wieder Exzerpte aus den Werken H.P. Lovecrafts. Etliche szenische Illustrationen verdichten das Ambiente zusätzlich. Es ist positiv anzumerken, dass die Illustrationen nicht mit Hakenkreuzen überfrachtet sind. Anstelle des tatsächlichen (und in Deutschland heute verbotenen) Symbols der "Schwarzen Sonne" benutzt das System für die gleichnamige Kultist:innenfraktion ein eigenes Design.
Fazit
Die Spielwelt von Achtung!Cthulhu 2D20 ist, kurz zusammengefasst, die Welt des H.P. Lovecraft, aber zeitlich mitten im Zweiten Weltkrieg, an dem die SC auch in irgendeiner Form teilnehmen. Düsterer als das geht es wohl kaum. Glücklicherweise schafft es das System, dieses Setting in actionreiches Pulp-Rollenspiel umzusetzen, ohne, dass es völlig ins Lächerliche à la Captain America kippt. Die Bösewichte von Achtung!Cthulhu 2D20 sind angemessen gruselig, die Held:innen nicht zu strahlend für das düstere Ambiente.
Die Welt muss nicht nur vor irdischem Bösen beschützt werden.
Beim ersten Durchlesen scheint das System eine gute Balance zwischen Pulp und Horror sowie zwischen Geschichte und Mythos zu halten. Die Spielwelt ist detailreich beschrieben und der Spielleitung werden jede Menge Ressourcen für eine eigene Kampagne an die Hand gegeben, ohne diese aber allzu sehr zu micromanagen. Ob diese dann mehr Inspiration von bis heute beliebten Verschwörungsmythen (Nazi-UFOs über Neuschwabenland!), echten historischen Ereignissen oder den Geschichten H.P. Lovecrafts und klassischeren Cthulhu-Rollenspielen nimmt, bleibt der SL überlassen: alles ist in dieser Spielwelt möglich.
Das Regelwerk des Modiphius-Haussystems 2D20 ist gut auf die Spielwelt adaptiert und verständlich mit Hilfe zahlreicher Tabellen beschrieben. Die Charaktererschaffung ist als Schritt-für-Schritt-System logisch aufgebaut. Ein Wermutstropfen ist, dass viel hin- und her geblättert werden muss. Im Allgemeinen sind beide Bücher aber gut gegliedert und ihr Geld für Cthulhu-Fans, die eine pulp-inspirierte Kampagne im Schatten des Zweiten Weltkriegs leiten möchten, auf jeden Fall wert. Spielende brauchen indes nur den Player's Guide, in dem alle Regeln und eine spoilerfreie Beschreibung der Spielwelt enthalten sind.
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https://www.teilzeithelden.de/2022/03/18/rezension-die-fleischgaerten-von-carcosa-call-of-cthulhu-body-horror-und-wandersimulation/
Widerliche Kreaturen und der Kampf ums nackte Überleben – das Survival-Horror-Abenteuer Die Fleischgärten von Carcosa ist nichts für schwache Nerven. Gefangen in einer Welt aus menschlichen Eingeweiden gilt es, einen Ausweg zu finden, ohne wahnsinnig zu werden. Für wen sich die Herausforderung lohnt, erfahrt ihr hier.
Was als harmlose Aufgabe beginnt, kann schnell tödlich enden. Die Fleischgärten von Carcosa wirft die Charaktere in eine grausam pervertierte Welt, in welcher der König in Gelb regiert. Um von dort zu entkommen, müssen einige Strapazen und weite Wege überwunden werden. Das Szenario für Call of Cthulhu ist als Survival-Horror konzipiert und unterscheidet sich damit stark von anderen Abenteuern im Genre. Statt Ermittlungen, subtiler Anspannung und Interaktionen mit NSC stehen Überlebenstechniken und Kämpfe gegen schreckliche Wesen klar im Vordergrund.
Da vor allem die unübliche Spielwelt und Zusatzmechaniken den Reiz des Szenarios ausmachen, können in diesem Artikel Spoiler nicht vollständig vermieden werden. Unbefleckt mehr über das Reich des Königs in Gelb zu erfahren, ist ohnehin kaum möglich. Größere Überraschungen der möglichen Handlung werden in Spoiler-Kästen gekennzeichnet.
Ebenfalls im Abenteuerband enthalten ist das Szenario Das Gelbe Zeichen, welches pandemiekonform nur eine Spielleitung und eine spielende Person benötigt. Dieses beschäftigt sich ebenfalls mit dem König in Gelb und behandelt vor allem das Thema Einsamkeit. Einen ausführlichen Spieltest dazu gibt es in dieser Rezension nicht.
Die Spielwelt – Lebendige Fleischgärten
Widerlich, schaurig und beängstigend schön – die Fleischgärten sind das grausame Reich Hasturs, des Königs in Gelb. Geschaffen aus menschlichen Eingeweiden funktionieren die Gärten wie ein korrumpiertes Ökosystem. Das fängt bereits beim sogenannten „Schmelzboden“ an, der aus Haut und Fleisch in verschiedenen Tönen besteht und durch die schleimige Konsistenz jede Fortbewegung erschwert. Hinzu kommt der Mananebel, ein nach Verwesung stinkendes Gas, welches die Grundlage für die Existenz der Flora und Fauna der Welt bildet. Beispielsweise füllt es die Magenbäume aus, aus Gedärmen und Knochen geformte Gewächse. Oder es dient sogenannten Lungenschmetterlingen als „Nektarersatz“, wenn sie sich an den wortwörtlichen Hirnblumen nähren.
In den Fleischgärten gibt es ein eigenes, korrumpiertes Ökosystem.
Natürlich finden die gefährlichen Byakhee, riesige schwanenartige Insekten und Boten Hasturs, ebenfalls Platz in diesem unmenschlichen Reich. Wegen ihrer Einzigartigkeit ist die Welt ein klarer Pluspunkt für das Szenario.
Die Handlung
Als Erzählung erwartet die Spielenden nach einem eher generischen Einstieg, bei dem ein verschwundenes Buch zurückgebracht werden soll, eine offene Sandbox-Spielwelt. Das Ziel ist simpel: Entkommt lebend den Fleischgärten. Dazu gibt es ein paar Wege, die aber alle nicht ungefährlich sind. Die Grundhandlung, die sich am ehesten als eine Art Schnitzeljagd beschreiben lässt, findet ihr im Spoilerkasten.
Ein Ausschnitt aus dem Theaterstück.
An dieser Stelle noch ein Lob dafür, eine vollständige Fassung des Theaterstücks Der König in Gelb in das Szenario einzufügen. Nicht nur sind darin einige wichtige Hinweise für die Spielenden versteckt, die teilweise groteske Handlung fängt den sich anbahnenden Horror gut auf. Das Stück wurde im Laufe des Spieltests einmal von allen am Tisch in verteilten Rollen gelesen, was für viel Gänsehaut bei allen Beteiligten sorgte.
Die Regeln – Wandern bis zum Umfallen
Um die Fleischgärten besonders intensiv in Szene zu setzen, werden der Spielleitung für das Abenteuer neben den klassischen Call of Cthulhu-Regeln eine Vielzahl an zusätzlichen Regeln an die Hand gegeben. Denn so ziemlich alles, auf das die Charaktere treffen können, ist eine potenzielle Gefahr: Selbst zu lange in den Himmel zu schauen kann zu Halluzinationen führen. Nur mit genug Wasser, Essen und Schlaf ist an eine sichere Weiterreise überhaupt zu denken.
Zur besseren Darstellung sind im Abenteuer eigene Wanderregeln enthalten. Die Mechanik dahinter ist simpel: Nach jeder gewanderten Stunde sammeln die Charaktere unweigerlich einen Erschöpfungspunkt an. Wer drei Erschöpfungspunkte hat, kann nicht mehr weiterlaufen und muss rasten, um diese abzubauen. Während jeder gewanderten Stunde dürfen alle Charaktere einmal eine besondere Aktion durchführen, bei der auf ein Attribut gewürfelt wird. Die Aktionen erlauben es beispielsweise, einen Erschöpfungspunkt wieder zu streichen oder die Gruppe einen zusätzlichen Kilometer weiterwandern zu lassen. Durch die Regeln wird das Wandern schnell zu einem kleinen Minispiel für die Spielenden. Gemeinsam können sie überlegen, wer welche Aktion übernehmen möchte.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Ein Abenteuer in den Fleischgärten bedeutet vor allem eins: viel Vorbereitung für die Spielleitung. Um den Survival-Aspekt richtig zur Geltung zu bringen, müssen viele Informationen parallel beachtet werden. Das kann im schlechtesten Fall dazu führen, dass viel Rollenspiel und Stimmung wegen Regelmechaniken verloren geht. Hinzu kommt die nur lose ausgearbeitete Rahmenhandlung in einer Sandbox-Welt. Eine gewisse Spontanität schadet also nicht, um die Spielenden konzentriert zu halten. Positiv ist deshalb die Tabelle, mit der zufällig das Terrain bestimmt werden kann, sowie die Liste an zufälligen Begegnungen.
Insgesamt sind die Regelungen für das Wandern sehr schön ausgestaltet. Da für jedes Attribut eine passende Aktion vorgegeben ist, kann die Gruppe gemeinsam taktieren und so den ein oder anderen Kilometer zusätzlich herausholen. Das ist auch bitter nötig, denn vom Knochenbrunnen zu einem der speziellen, für die Handlung wichtigen, Orte ist der Weg lang. Die Idee, einen Kilometer Weg mit einer Stunde Wanderung gleichzusetzen, hakt an dieser Stelle etwas. Auch wenn der Morast-ähnliche Boden die Bewegung verlangsamt, wären wenigstens zwei Kilometer pro Stunde als Grundbewegung besser. Andernfalls laufen sich die Charaktere nur die Füße wund, ohne zwingend etwas Spannendes zu erleben.
Zum Thema Überleben gleich noch ein gut gemeinter Ratschlag: Die Spielleitung sollte die Gruppe nicht ohne Vorwarnung und Ausrüstung nach Carcosa schicken. Wenn die Charaktere kein Werkzeug haben, können sie mit den vorhandenen „Ressourcen“ nichts anfangen. Statt Survival-Spaß kommt eher Frust auf. Nicht mal Feuer ist ohne Weiteres möglich im ewig-feuchten Dunst der Fleischgärten. Auch bei der Bewaffnung sollte die Spielleitung angesichts der lebensfeindlichen Umgebung nicht sparsam sein.
Leider ist die Übersichtlichkeit eine der Schwächen des Szenarios. Grundsätzlich ist der Aufbau einheitlich angeordnet. Es gibt Abschnitte für die Haupthandlung, einen Katalog zur Flora und Fauna der Fleischgärten, Angaben zu wichtigen Orten, Leichen und der Regelübersichten. Allerdings fehlt ein Index, was das spontane Nachschlagen erschwert. Insbesondere, wenn etwas mehrfach erwähnt wird, ein spezielles Detail aber nur an einer Stelle zu finden ist.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Grundsätzlich fiel die Rückmeldung der Testgruppe weitgehend positiv aus. Der Horror und die ständige Bedrohung sorgen für viel Spannung und ein schauriges Grundgefühl. Auch das Design der Welt mit seinen makabren Kreaturen wirkt kreativ und abwechslungsreich. Dank des Fokus der Aktionen auf die Attribute können auch Charaktere, die sonst keine Überlebenskünstler:innen sind, wichtige Aufgaben für die Gruppe erfüllen und hervorstechen. Generell lässt das Abenteuer viel Platz für interne Gespräche zwischen den Spielcharakteren. Viel mehr bleibt den Personen am Tisch auch nicht übrig – immerhin gibt es neben dem König in Gelb und den Kreaturen nur zwei relevante NSC mit Sprechrolle.
Spielbericht
Als Einblick, wie eine mögliche Runde ablaufen könnte, gibt es eine kurze Zusammenfassung. Wer vom Abenteuer überrascht werden möchte, sollte diesen Abschnitt überspringen.
Um ein scheinbar gestohlenes Buch zurückzuholen, machten sich ein Soldat, ein Priester, ein Alkoholschmuggler, ein ehemaliger Boxer, ein Buchhalter und eine Sekretärin gemeinsam auf zu einer abgelegenen Ferienhütte. Mit passender Ausrüstung für einen anschließend geplanten Camping-Ausflug im Gepäck fanden sie schnell die Hütte und das Buch. Von Neugier getrieben begannen sie darin zu lesen…
Tatsächlich vergaßen, bis auf eine Person, alle Spielenden den Großteil der Ausrüstung mit in den Nebel zu nehmen, der sie nach Carcosa führte. So stolperten sie mit Waffen und einer Handvoll Munition in die Fleischgärten hinein und trafen nach ersten Anfällen des Wahnsinns auf den sterbenden Marcel. Eine Begegnung mit dem Herrn des Landes sowie eine Flucht später fanden sie den Knochenbrunnen, eine Karte der Umgebung und die Hinweise, wie sie entkommen konnten.
Die Gruppe begann mit einer mühevollen Reise zum Lager der Gelben Erkundung, wo sie weiteres Werkzeug und Hinweise fanden. Anschließend suchten sie den Muskelbaum auf und schafften es, eines der Herzen unbeschadet herunterzuschießen. Der Schuss rief insgesamt drei Byakhee auf den Plan, welche die Charaktere, dank sehr viel Würfelglück, töten konnten. Kurz darauf verstarb jedoch die Sekretärin bei einem Angriff eines Wolfes mit menschlichen Armen und Beinen.
Der Rest entschied sich, ihr Opfer zu nutzen und die übrigen Körperteile von ihr zu nehmen. Der Steuerberater konnte nicht mit dem Gedanken leben, eine unschuldige Person auszuweiden und verfiel in eine Raserei, die ihn letztlich selbst das Leben kostete. Mit genug „Material“ machten sich die Überlebenden wieder in Richtung Knochenbrunnen auf. Dort setzten sie alle Teile ein, um als letzten Schritt das Gesicht zu suchen.
Nach einer Reise voller Verirrungen im dichten Nebel der Hyaden, der außerhalb des Kartenbereiches liegt, wurde der Schimmernde Palast gefunden. Durch gutes Taktieren schaffte es die Gruppe, genug Masken zu finden und das Labyrinth wieder zu verlassen, ohne den König in Gelb auf sich aufmerksam zu machen. Zurück am Knochenbrunnen und durchnässt vom Blutregen setzten sie dem Leichnam die Maske auf. Als letzten Schockmoment trat der König in Gelb nochmal auf, bevor die lebenden Charaktere wieder in ihre Welt transportiert wurden.
Die vier überlebenden Personen mussten mit Schrecken feststellen, dass ihre Erlebnisse kein Traum gewesen waren. Der Soldat flüchtete in einem Anfall von Wahnsinn. Die übrigen entschieden sich dazu, das Ferienhaus samt dem gesuchten Buch lieber zu verbrennen und versuchten anschließend, mit einer ausgedachten Geschichte die Sache zu bereinigen.
Erscheinungsbild
Wie bei Pegasus üblich erscheint der Abenteuerband als leichter Softcoverband mit insgesamt 80 Seiten für die beiden Szenarien. Das sehr realistisch wirkende Titelbild unterscheidet sich stark vom restlichen, eher comicartigen Stil der Illustratorin Nora Back. Das mag von einigen eventuell als „Verniedlichung“ gewertet werden, lockert aber den sonst blutigen und Inhalt charmant auf.
In sieben aufwendig gestalteten Schwarz-Weiß-Bildern sind vier wichtige Orte, ein Investigator, eine Kreatur und der König in Gelb abgebildet. Schade ist, dass nicht mehr Lebewesen der Fleischgärten im Abenteuer abgebildet wurden, um so die Beschreibung zu erleichtern. Schön gestaltet sind ebenfalls die handschriftlich und mit Blutflecken übersäten Handouts. Was das Layout angeht, können die kleinen Infoboxen mit Ortsübersichten und Tabellen positiv hervorgehoben werden. Der bereits erwähnte fehlende Index bleibt jedoch insgesamt ein großer Kritikpunkt.
Fazit
Die Fleischgärten von Carcosa bricht mit dem Fokus auf Survival-Horror mit vielen Klischees typischer Call of Chtulhu-Abenteuer. Statt Ermittlungen und subtilen Andeutungen geraten die Charaktere in eine fleischgewordene Hölle, in der alles tödlich enden kann. Um herauszukommen, müssen sie zusammenarbeiten und ihre knappen Ressourcen sinnvoll einsetzen. Das Szenario besticht mit einem ausgefeilten Ökosystem schrecklicher Kreaturen und einer morbiden Grundstimmung. Wer auf Body-Horror steht, bekommt hier viel geboten. Positiv hervorzuheben sind zudem die durchdachten Wanderregeln und das berühmte Theaterstück Der König in Gelb als Handout.
Leicht zu leiten ist das Abenteuer im Sandbox-Format aber nicht. Die Spielleitung wird mit vielen wichtigen Angaben erschlagen, gleichzeitig fehlt jedoch der Index. Der Fokus kann sehr schnell auf der Mechanik liegen, was der Geschichte eher schadet. In diesem Sinne fühlt sich das Szenario streckenweise wie ein PC-Spiel an, nicht wie ein klassisches Pen-and-Paper-Rollenspiel.
Nicht zuletzt sind auch die behandelten Themen von Tod und Verstümmelung nichts für jede Spielrunde. Sollte die Gruppe aber Interesse an einer Herausforderung im Mythos-Universum haben, bekommen sie für den eher günstigen Preis des Abenteuerbandes hier viel geboten.
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https://www.teilzeithelden.de/2022/04/22/rezension-wanderhome-wohlfuehlprogramm-im-idyllischen-haeth/#Fazit
Wanderhome ist kein klassisches Rollenspielsystem. Es kommt fast ohne Regeln aus und konzentriert sich auf den narrativen Aspekt. In einer Fantasy-Welt, die von Tieren bevölkert wird, erschafft man gemeinsam Orte, um sie anschließend zu bereisen. Was währenddessen geschieht, entwickelt sich meist erst während des Spielens.
In Wanderhome ist die Reise das Ziel. Deshalb ist sie auch das Äquivalent zu Wörtern wie Abenteuer oder Szenario, die andere Rollenspielsysteme nutzen. Jay Dragon, verantwortlich für den Text und Ruby Lavin, verantwortlich für das Layout, bilden zusammen Possum Creek Games. Im August 2020 waren sie mit Wanderhome, das auf der „Belonging Outside Belonging engine“ aufbaut, auf Kickstarter erfolgreich. Seit 2021 kann es als PDF oder in Buchform erworben werden. Was hat es zu bieten und für wen lohnt es sich?
Die Spielwelt
Wanderhome spielt in Hæth. Es ist ein idyllisches, aber auch mysteriöses Land mit Feldern, Wiesen, Wäldern, Türmen und Höhlen. Hier leben keine Menschen, sondern Tiere friedlich in kleinen Gemeinschaften zusammen. Sie sind vermenschlicht, laufen also auf zwei Beinen, tragen Kleidung und haben annähernd menschliche Größe. Die Insekten nehmen hierbei die Rolle von Nutztieren, Haustieren und wilden Kreaturen ein. So kümmern sich Hirten um Herden von Hummeln und Motten tragen die Post aus.
Es werden ein paar Andeutungen gemacht, dass Hæth in der Vergangenheit dunklere Zeiten erlebt hat, wie etwa einen Krieg, der seit einiger Zeit jedoch vorbei ist. Seitdem gibt es keine Gewalt mehr, sondern Friede und Eintracht unter den Bewohnern. Diese sind grundsätzlich gastfreundlich und in ihrem Wesen gut. Eine Ausnahme bilden die Mächtigen, wie Generäle oder Herrschende, deren Seelen durch die Macht korrumpiert wurden. Glücklicherweise gibt es seit Ende des Krieges nicht mehr viele von ihnen.
Wie die Welt von Wanderhome ansonsten aussieht, wer genau sie bewohnt und was in ihr passiert, ist vollkommen der Spielleitung, beziehungsweise den Spieler:innen und ihren Ideen überlassen.
Die Regeln
Wanderhome besitzt keine Regeln, wie man sie klassischerweise von einem Pen-and-Paper-System erwarten würde. Stattdessen benötigt man lediglich Stift, Papier und eine Anzahl an kleinen Dingen (etwa Münzen, Blätter oder Murmeln), die sich als Token verwenden lassen. Die Charaktere haben weder Attribute noch irgendwelche Werte, auf die gewürfelt werden müsste. Sie besitzen lediglich bestimmte Wesenszüge und erhalten von ihrem Spielbuch, also in etwa der Klasse, einige Dinge, die sie tun können.
Das Spiel konzentriert sich darauf, dass alle sich wohlfühlen und eine schöne Zeit haben. Konversation, also das Gespräch untereinander, ist hierbei das wichtigste Werkzeug. Denn in jeder Sitzung erschafft man gemeinsam einen kleinen Teil der Welt und ihrer Bewohner. Hierzu liefert das Regelwerk eine Anleitung, um Hæth Leben einzuhauchen.
Zu Beginn einer neuen Reise müssen zunächst ein paar Fragen geklärt werden. Zum Beispiel, ob man mit oder ohne Spielleitung spielt, wie lange die Reise dauern soll oder ob sie idyllisch und fröhlich oder mehr auf Trauma und Heilung konzentriert sein soll. Denn obwohl der Krieg vorbei ist, leiden manche immer noch darunter – ob physisch oder psychisch.
Anschließend entsteht der Ort, an dem man die Reise beginnt oder fortführt. Als Grundgerüst dienen hierzu sogenannte „Natures“. Diese sind in sechs verschiedene Kategorien mit jeweils sechs präziseren Orten aufgeteilt. So kann eine „Verdant Nature“ ein Sumpf, Feld oder Lagune, eine „Liminal Nature“ eine Insel, Brücke oder Straße und eine „Lonely Nature“ ein Moor, Friedhof oder Höhle sein. Aus einer Kombination drei dieser „Natures“ – die man auch metaphorisch interpretieren kann – entsteht durch die Vorschläge im Buch und die Ideen der Spieler:innen jeder Ort. Leben wird ihm eingehaucht, indem man beschreibt welchen Arten von Tieren die NSC, die hier „Kith“ genannt werden, angehören.
Für Reisen, die sich über mehrere Wochen oder Monate erstrecken sollen, werden die fünf existierenden Jahreszeiten interessant. Diese sind in jeweils drei Monate mit verschiedenen Festen aufgeteilt und werden alle mit Vorschlägen, was passieren könnte, beschrieben.
Im Spiel haben die Charaktere die Möglichkeit, Token zu generieren. Dies geschieht etwa, indem man sich einen kleinen Nachteil auferlegt, einen persönlichen Gegenstand weggibt oder die wahren Gefühle zu einem bestimmten Thema offenbart. Diese Token können dann ausgegeben werden, um sich oder der Gruppe einen kleinen Vorteil zu verschaffen oder einfach, um die Welt um sich herum noch ein bisschen besser zu machen.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung ist sehr simpel gehalten. Das Spielbuch (englisch: Playbook) stellt die Grundlage für jeden Charakter dar. Insgesamt stehen 15 zur Auswahl, zum Beispiel „Moth-Tender“, „Shepherd“ oder „Vagabond“. Das ausgewählte Spielbuch führt durch die weitere Charaktererschaffung.
Ein Beispiel
Als Spielbuch wurde „The Firelight“ ausgewählt. Ein kleiner Text beschreibt die Tätigkeit eines solchen Charakters: Mit Hilfe eines Glühwürmchens weist man anderen in der Dunkelheit den Weg.
Anschließend muss man aus verschiedenen Listen – die sich je nach Spielbuch unterscheiden – etwas auswählen, um so den Charakter zu formen. So soll man sich als Firelight für zwei Dinge entscheiden, die man versucht zu sein und zwei von denen man weiß, dass man sie nicht sein kann.
Nach einigen Vorschlägen zum Aussehen des Charakters wählt man aus, unter welchen Umständen man seinen Glühwürmchenbegleiter getroffen hat und erzählt den anderen Spielenden anschließend, welches Licht man stets entzündet lässt und welches schon lange erloschen ist.
Abschließend stellt man den Spieler:innen rechts und links von sich eine zum Spielbuch passende Frage, die eine erste Verbindung zwischen den Charakteren herstellt.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Da das Spiel es ermöglicht, fand die Testrunde ohne Spielleitung statt. Lediglich zu Beginn fungierte ein Spieler als Guide, um durch das Erschaffen der Charaktere, der Welt und des Szenarios zu führen. Dennoch wurde deutlich, dass eine Spielleitung in Wanderhome viele Freiheiten hat. Da man so viel oder wenig planen kann, wie man möchte, entfällt die Sorge, in einer Sitzung bis zu einem bestimmten Punkt der Reise kommen zu müssen. Doch da die Spieler:innen stets eigene Ideen einbringen können, wird die Planbarkeit ohnehin gesenkt, was nicht immer ein Vorteil ist.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Die durch das Buch vermittelte Welt ist vielfältig, divers und inklusiv. Sie fühlt sich idyllisch und ansprechend an, sodass man gerne Zeit in ihr verbringt. Die Tatsache, dass es keine Gewalt gibt, stellt eine erfrischende Abwechslung zu bekannten Systemen dar. Dadurch kann man sich ganz auf die Welt und die Beziehungen der Charaktere zu ihr und untereinander konzentrieren.
Die Welt wird durch beschreibende Texte, Bilder, die Spielbücher und die Fragen zu den Orten gleichzeitig vage, aber dennoch ausreichend greifbar beschrieben, sodass ein gut nutzbarer Eindruck entsteht, auf dem man alles aufbauen kann.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.
In Wanderhome kann und soll man auch als Spieler:in aktiv an der Gestaltung der Welt teilnehmen. So kann man jederzeit einen neuen NSC einführen und auch selbst beschreiben und verkörpern. Dadurch kann man der eigenen Kreativität freien Lauf lassen, sollte sich aber am Ende mit den anderen einigen können. So kann etwas völlig Unerwartetes entstehen, wenn aus zwei unterschiedlichen Vorschlägen ein Kompromiss geformt wird. Durch die großen Freiheiten erscheint die Mechanik der Token jedoch etwas überflüssig.
Dennoch wurde das Spielen ohne SL als am negativsten empfunden. Ohne sie muss man stets aufmerksam sein und Ideen beitragen, damit das Spiel nicht ins Stocken gerät. Zudem ist ständiges Improvisieren und das Beschreiben von Orten, Personen oder Ereignissen aus dem Stehgreif nicht für alle Spieler:innen leicht oder komfortabel.
Auch gibt es wenige regelseitige Anhaltspunkte, wie ein gutes Pacing erreicht werden kann oder wie Herausforderungen entstehen können. Dadurch droht das Spiel „vor sich hinzudümpeln“, wenn niemand eine Idee für etwas Größeres hat, das als nächstes passieren kann.
Spielbericht
Die Testrunde fand ohne Spielleitung statt und erstreckte sich über zwei Abende. Das Erschaffen der Charaktere und des bespielten Ortes dauerten etwa zwei Stunden, die reine Spielzeit betrug knapp vier Stunden und es wurde alles improvisiert.
Das Erschaffen des bespielten Ortes
Der bespielte Ort namens Waldhaven entstand aus einer Kombination der „Natures“ Hafen, Kloster und Markt. Waldhaven ist über einen Durchgang zu erreichen, der von zwei zusammengewachsenen Eichen gebildet wird. Dahinter erstreckt sich der zwischen Bäumen versteckte Ort. Er liegt an einem Fluss und besitzt einen Hafen. Die Schiffe können nur flussaufwärts fahren, was sie durch Treideln mittels Libellen bewerkstelligen. Flussabwärts wartet ein großer Wasserfall.
In die hohen Bäume integriert befindet sich ein Kloster, das von den verschiedensten Bären geleitet wird und in dem die Libellen trainiert werden. Weitere Bewohner sind Otter und Axolotl. Auf Höhe des Flusses befindet sich ein Markt, der von Tieren aus Nah und Fern besucht wird.
Wundersames gibt es überall zu entdecken.
Die Charaktere
Kiesel ist ein Einsiedlerkrebs im fortgeschrittenen Alter. Sie ist eine Kriegsveteranin ruhigen Gemüts und trauert um eine alte Liebe.
Ezra ist ein Adler mit einem verletzten Flügel, dessen politische Umtriebe ihn ins Exil gebracht haben. Er ist stets gut gekleidet, wirkt manchmal etwas dandyhaft, fühlt sich bei aller zur Schau gestellten Überlegenheit aber oft fehl am Platz. Noch weiß er nicht, ob er nach einem neuen Zuhause, einem neuen Klan – ob Adler oder nicht – oder nach beidem sucht.
Tarradon ist ein älterer Widder, der mit seiner Hummelherde durch die Gegend reist. Er will an seine Jugenderfahrungen anknüpfen und noch einmal interessante Orte entdecken.
Moe ist eine Fledermaus, die sich um die postzustellenden Motten kümmert. Sein wichtigstes „Paket“ welches er gerade „zustellt“ ist ein kleiner Schildkrötenjunge namens Marcel, der seine Familie verloren hat. Doch der Weg zu seinem neuen Zuhause ist weit und bis dahin genießen beide das gemeinsame Reisen.
Lucinda ist ein Flamingo mit altruistischen Zügen. Zusammen mit ihrem Glühwürmchen Steve führt sie andere sicher durch schwieriges Gelände wie dichte Wälder, Sümpfe und Moore. Sie fühlt sich dort Zuhause, wo sie anderen mit ihrem Licht helfen kann.
Aufbruch zu einer neuen Reise.
Die Reise beginnt
Nach vielen Tagen im Wald erreichen die fünf Charaktere durch das Tor der zwei Eichen Waldhaven. Sie sehen den Fluss, den Hafen mit den Booten und Libellen und schließlich das Kloster, das hoch oben in den Bäumen liegt und über hölzerne Aufzüge erreicht werden kann.
Sie werden jedoch durch eine Gruppe junger Otter abgelenkt. Einer von ihnen hat gerade eine Libelle gepackt und hält sich nun an ihr fest, während sie immer höher steigt. Schnell wird klar, dass er sich nicht mehr lange halten kann. Tarradon eilt zur Hilfe und steigt auf seine Hummel Pummel, doch sie schafft es nicht, hoch genug zu fliegen. Also schnappt Kiesel sich ein großes Stück Stoff einer Händlerin, welches sie zusammen mit Ezra und Lucinda aufspannt. Und das gerade rechtzeitig, um den jungen Otter damit aufzufangen. Er scheint jedoch vollkommen unberührt von der Situation zu sein und wendet sich fasziniert an Pummel. Tarradon lässt ihn kurz auf ihr reiten, was er anschließend begeistert seinen Freunden erzählt.
Die Charaktere wenden sich nun dem Kloster zu. Als sie oben ankommen, herrscht dort reges Treiben und es stellt sich heraus, dass die vielen Personen für eine Art Vorstellungsgespräch da zu sein scheinen. Obwohl alle fünf neugierig sind, beschließen sie, sich erst einmal für die Nacht auszuruhen und das Kloster am nächsten Tag zu erkunden.
Auf Reisen ist auch das Innehalten wichtig.
Beim Frühstück bietet ein Hamster namens Hugo ihnen einen Rundflug über den Wasserfall hinaus an. Es herrscht zwar Interesse, aber da der Ort eine eigene Währung verwendet, müssen die Charaktere zuerst etwas davon auftreiben. Tatsächlich finden sie auf dem Markt eine Händlerin, die Krimskrams und andere Währungen in die hiesige umtauscht. Schließlich wird es Zeit für die Ballonfahrt. Lucinda, die bisher nicht mitwollte, ist nach den Erzählungen der Händlerin etwas besorgt, was die Sicherheit dieser Fahrt anbelangt. Deshalb wird sie, auch zu Ezras Beruhigung, nebenher fliegen. Der Adler ist durch seinen verletzten Flügel lange nicht mehr geflogen und hat Höhenangst entwickelt.
Dann beginnt die Fahrt mit dem Ballon – der eher einem Hut ähnelt und über ein Hamsterrad angetrieben wird. Sie steigen immer höher und lassen Waldhaven hinter sich. Nachdem sie einen dichten Nebel durchquert haben, erstrecken sich vor ihnen Ruinen längst vergangener Tage. Ezra vermutet, dass die Strukturen von Adlern erbaut wurden, ist aber überrascht, sie so weit weg von Zuhause zu sehen.
Moe, der schon lange einmal wieder seine Flügel ausstrecken wollte, gesellt sich nun zu Lucinda und die beiden liefern sich ein kleines Wettrennen zwischen den Ruinen. Unterdessen steigt der Ballon einen weiteren Wasserfall nach oben, wo sie einen prächtigen Regenbogen erblicken. Kiesel erzählt Marcel, dass sich an seinem Ende Gold befindet. Die kleine Schildkröte ist begeistert davon und überredet den Hamster Hugo, dorthin zu fliegen. Und so erreichen sie eine kleine Einbuchtung im Gestein. Hugo erklärt, dass jemand anderes sich dort hineinstellen muss, damit Marcel das Gold sehen kann. Er bittet Lucinda darum, die zur entsprechenden Stelle fliegt. Dort fällt ein Sonnenstrahl auf sie herab, der ihre Erscheinung golden wirken lässt. Leider können sie nicht länger verweilen, denn die Reserven des Ballons sind fast erschöpft und sie müssen zurückfliegen.
So endet die Reise am Ort Waldhaven und kann an anderer Stelle fortgesetzt werden. Manche Charaktere werden zusammenbleiben, andere werden ihren eigenen Weg gehen.
Erscheinungsbild
Das gesamte Buch ist äußerst ansprechend gestaltet. Während die Seiten selbst in angenehm dezenten Pastelltönen gehalten sind, werden sie nie durch zu viel Text überladen. Zusätzlich dienen viele wunderschöne Zeichnungen und Bilder verschiedener Künstler:innen der weiteren Auflockerung. Da das Regelwerk sehr simpel ist, kann man sich gut zurechtfinden, was durch den Index noch weiter erleichtert wird.
Fazit
Wanderhome ist kein klassisches Pen-and-Paper-Rollenspiel. Das will und muss es auch gar nicht sein. Da sich alle Spielenden beteiligen können, während die Geschichte sich entwickelt, weiß man nie, in welche Richtung die Reise weitergeht. So wird die Welt von Wanderhome von Sitzung zu Sitzung und von Gruppe zu Gruppe immer neue Formen annehmen.
Das gemeinsame Erschaffen der verschiedensten Orte und anschließend in eben diesen zu spielen ist großartig und bietet viel Raum für Fantasie. Die große Diversität und Gewaltlosigkeit des Systems perfektionieren dieses Erlebnis.
Die größte Problematik stellt die Rolle der Spielleitung in Wanderhome dar. Ohne sie kann das Spiel leicht ins Stocken geraten, wenn nicht alle Spielenden erfahren im Improvisieren sind. Es lassen sich auch keine komplexeren Handlungsstränge aufbauen, wodurch viele Geschehnisse eher oberflächlich bleiben. Mit einer Spielleitung müssen Rahmenbedingungen gesetzt werden, um ihr eine bessere Planung der Geschehnisse zu ermöglichen.
Letzten Endes wird es vermutlich etwas Justierung benötigen, bis jede Gruppe ihren Spielstil für Wanderhome gefunden hat. Epische Kampagnen wird man in dieser Spielwelt nicht erleben, dafür aber ein warmes und herzliches Wohlfühlprogramm sowie viel Charakterspiel. Denn Wanderhome lässt sich am besten mit einem englischen Wort beschreiben: wholesome.
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https://www.teilzeithelden.de/2022/02/26/rezension-blue-rose-green-ronin-publishing-aldea-erwartet-euch/
Blue Rose ist ein Rollenspiel mit romantischem Fantasy-Setting. Beziehungen spielen eine besonders große Rolle, aber das ist nicht alles. Magie, intelligente Tiere, eine vielfältige und diverse Bevölkerung sowie phantastische Landstriche und übelwollende Lebewesen machen die Welt Aldea zu einem faszinierenden Ort, der zum Erkunden einlädt.
Nachdem Blue Rose erstmals 2005 von Green Ronin Publishing veröffentlicht wurde, nutzte der Verlag zehn Jahre später Kickstarter, um 2017 das Grundregelwerk einer zweiten Edition herauszubringen. Diese verwendet nun das hauseigene AGE-System und soll hier unter die Lupe genommen werden.
Die Spielwelt
Aldea, die Spielwelt von Blue Rose, ist bunt, vielfältig und magisch. Das Grundregelwerk beschäftigt sich in aller Ausführlichkeit mit fünf Regionen, auf denen das Hauptaugenmerk liegt. Es wird auf das Land selbst, seine Geografie, die Bevölkerung, Kultur, Religion sowie wichtige oder besondere Orte und Personen eingegangen. Auf diese Weise gewinnt man einen sehr guten Eindruck davon, wie unterschiedlich diese fünf Länder sind und warum der Fokus von Blue Rose, als ein Rollenspiel mit romantischem Fantasy-Setting, auf dem Land Aldis liegt.
Aldis wird auch das Königreich der Blauen Rose genannt. Nach einer düsteren Vergangenheit hat die Bevölkerung sich von der Unterdrückung durch die Sorcerer befreit. Inzwischen haben sie eine Gesellschaft mit hohen moralischen Standards aufgebaut, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und die Verständigung aller Völker einsetzt. Beherrscht wird Aldis von einem:einer Monarch:in, welche:r jedoch nicht durch Erbe, sondern durch ein strenges Auswahlverfahren und schließlich göttliche Bestimmung den Thron besteigt.
Das Land von Aldis ist fruchtbar und mit einem milden Klima gesegnet. Lediglich in den Grenzbereichen zu zwei anderen Ländern werden die Bedingungen rauer.
Jarzon ist eine strenge Theokratie, deren Herrscher:innen fest entschlossen sind, nie wieder solch dunkle Zeiten wie in der Vergangenheit unter der Herrschaft der Sorcerer zuzulassen.
Rezea besteht zum großen Teil aus weiten Ebenen. Sie werden von nomadischen Clans bevölkert, die ihre Freiheit über alles lieben.
Die Inseln von Lar´tya gleichen einem tropischen Paradies. Die Bevölkerung lebt in einem Matriarchat mit einem strengen Kastensystem, aber durch den Einfluss anderer Länder scheint es Veränderungen zu geben.
Ganz anders sieht es in Kern aus, einem öden und trostlosen Land. Das Erbe der Sorcerer ist hier deutlich zu spüren, doch während die anderen Länder alles tun, um davon loszukommen, wird es in Kern gepflegt. Sklav:innen und Untote sind ein normaler Anblick und die Herrschenden interessieren sich nicht dafür, wie es der Bevölkerung geht oder was sie tut, solange man ihnen gehorcht.
Die Bevölkerung Aldeas besteht zum großen Teil aus Menschen, die sich jedoch von Region zu Region stark voneinander unterscheiden. Die Night People – im Aussehen den klassischen Orks nicht unähnlich – sind ein Volk, das von den Sorcerern erschaffen und versklavt wurde, doch nun frei ist. Die Mitglieder des Sea-Folk sind im Wasser und an Land zu Hause und ähneln den Menschen, weisen aber ungewöhnliche Haut-, Augen- und Haarfarben auf. Die Vata sind von Natur aus magiebegabt, was ihnen das Leben in manchen Regionen Aldeas schwer macht. Das letzte Volk besteht aus intelligenten Tieren, die der Magie mächtig sind: die Rhydan. Fast überall haben sie den gleichen Status wie alle anderen Völker, auch wenn die meisten von ihnen lieber unter sich bleiben.
Nicht nur Vata und Rhydan, sondern auch andere Lebewesen beherrschen diese intuitive Form der Magie, das sogenannte „Arcana“. Sie wird vor allem dazu genutzt, das Leben der Bevölkerung zu verbessern – sei es im medizinischen Bereich oder im Kampf gegen die Umweltverschmutzung.
Ihr gegenüber steht eine Art „Schulmagie“, die in der Vergangenheit von Sorcerern und heute insbesondere von Magier:innen aus Kern genutzt wird, um Böses zu tun.
Durch das romantische Setting haben Beziehungen und Romanzen eine große Bedeutung. Die Bevölkerung Aldeas kennt dabei nicht „das klassische Beziehungsmodell“ zwischen Mann und Frau. Alle möglichen Formen von Beziehungen sind denkbar und werden toleriert – sie sind einfach normal. Das Thema Geschlecht wird ebenso frei und tolerant gehandhabt. Das Buch macht hierbei deutlich, dass die englische Sprache Limitierungen hat, die es in der Welt von Blue Rose nicht gibt. Trotz ausführlicher Erklärungen im Grundregelwerk, wie Geschlecht und Beziehungen in Aldea gehandhabt werden, wirkt es in keiner Weise forciert, sondern so normal wie die Beschreibung eines Landstriches.
Die Regeln
Blue Rose nutzt das AGE-System von Green Ronin Publishing mit einigen individuellen Anpassungen. Man benötigt lediglich sechsseitige Würfel – in der Regel drei Stück, von denen sich einer von den anderen beiden optisch unterscheiden sollte, da die von ihm gezeigte Zahl bei einem Pasch von Bedeutung ist. Jeder Charakter besitzt neun Eigenschaften, darunter Konstitution, Wahrnehmung und Stärke. Zu Beginn besitzen sie Werte zwischen -2 und 4.
Proben auf diese Eigenschaften werden mit 3W6 gegen einen Schwellenwert gewürfelt, der erreicht oder überschritten werden muss. Für den endgültigen erreichten Wert verrechnet man die 3W6 mit dem Wert der entsprechenden Eigenschaft und einem eventuell vorhandenen passenden Fokus, der durch Volk oder Hintergrund erworben werden kann. So ist zum Beispiel Schwimmen ein Fokus für Konstitution oder Einschüchtern ein Fokus für Stärke.
Ein Sonderfall tritt ein, wenn eine Probe gelingt und ein Pasch gewürfelt wird. Dann wird der andersfarbige Würfel, der sogenannte Drama Die, wichtig. Die Zahl, die er zeigt, bestimmt, wie viele Stunt-Punkte man zur Verfügung hat. Diese Punkte bringen neben der gelungenen Probe weitere Vorteile. So kann man im Kampf etwa zusätzlichen Schaden verursachen oder einen NSC nicht nur zu etwas überreden, sondern nachdrücklich beeindrucken.
Magie kann in Form von verschiedensten Zaubern jederzeit eingesetzt werden. Die Häufigkeit ist dabei theoretisch nicht begrenzt, doch nach manchen gewirkten Zaubern muss eine Probe bestanden werden, um kein Level Erschöpfung zu erhalten. Diese häuft sich auch durch andere anstrengende Tätigkeiten wie beispielsweise ein Gewaltmarsch und führt im schlimmsten Fall bei vier angesammelten Leveln zum Tod.
Die Reihenfolge im Kampf wird anhand des Initiativewerts bestimmt. Ein Angriff erfolgt auf dieselbe Weise wie die anderen Proben. Der Verteidigungswert des:der Gegner:in muss hierbei erreicht oder überschritten werden, wobei die volle Rüstung vom erlittenen Schaden abgezogen wird. Im Kampf stehen den Charakteren pro Runde jeweils eine „Major Action“, wie Angreifen oder Heilen, und eine „Minor Action“, wie Bewegen oder Zielen, zur Verfügung.
Dass Blue Rose ein Rollenspiel ist, das seinen Fokus nicht auf den Kampf legt, merkt man beispielsweise an den Waffen. Anstatt endloser Tabellen kommt es mit einer vergleichsweise kurzen Liste aus. Die Waffen wurden zu Gruppen mit jeweils zwei oder drei Varianten zusammengefasst. Für die Gruppe „Äxte“ gibt es beispielsweise die Varianten „Standard“, „Geworfen“ und „Zweihändig“. Für „Bogen“ gibt es die Varianten „Armbrust“, „Langbogen“ und „Schleuder“. Jede dieser Varianten verursacht eine bestimmte Menge an Schaden, wodurch das benötigte Arsenal an aufzulistenden Waffen deutlich verringert wird. Rüstungen und Schilde sind ähnlich unkompliziert in „Leicht“, „Mittel“ und „Schwer“ aufgeteilt.
Die Regeln sind sowohl leicht verständlich als auch gut umzusetzen und fügen sich gut in das Setting ein, dessen Fokus nicht auf Regeln, sondern Erzählung und zwischenmenschliche Beziehungen liegt.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung beginnt mit dem Festlegen der Werte für die neun Eigenschaften. Hierzu werden 3W6 gewürfelt und eine Tabelle konsultiert. Je nach Ergebnis erhält man einen Wert der von -2 bis 4 reichen kann.
Als nächstes entscheidet man sich für eines der fünf Völker: Menschen, Night People, Sea-Folk, Vata oder Rhydan. Mit dem Volk erhält man zwei Fokusse, die zufällig ermittelt werden. Auf diese Weise kann es geschehen, dass der Charakter Fertigkeiten erhält, die man bisher noch nicht für ihn in Betracht gezogen hatte.
Der Hintergrund ist entweder von einer Nationalität oder Kultur geprägt und beschreibt, wo und wie der Charakter aufgewachsen ist. Zusätzlich erhält man einen weiteren Fokus und zwei Sprachen, die man beherrscht.
Über die Klassen „Adept“ (Magier:in), „Expert“ (Schurk:in) oder „Warrior“ (Kämpfer:in) spezialisiert man sich weiter und erhält mit jedem Levelaufstieg neue Fähigkeiten und Talente hinzu.
Im Anschluss folgen das Auswählen der Ausrüstung sowie das Ausrechnen von Werten wie etwa der Verteidigung.
Abschließend werden Name, Aussehen, Ziele, Persönlichkeit und Beziehungen des Charakters festgelegt. Nun ist er bereit, Aldea zu bereisen!
Insgesamt nimmt die Erschaffung eines Charakters etwa 30 bis 60 Minuten in Anspruch, je nachdem, ob er magisch begabt ist oder nicht.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Das verwendete AGE-System hat ein einfach zu erlernendes Grundgerüst, das es sowohl Spielleitung als auch Spieler:innen einfach macht, einzusteigen. Es ist somit auch gut für Rollenspielneulinge geeignet. Zudem ist das Regelsystem detaillierter als etwa das von Dragon Age, das ebenfalls das AGE-System verwendet. Dennoch besteht kein Zwang, jedes Detail auch umsetzen zu müssen.
Positiv ist auch, dass sämtliche wichtigen Informationen im Grundregelwerk zu finden sind.
Das gespielte Abenteuer war einfach umzusetzen und anpassbar: Durch einen modularen Aufbau konnten Szenen problemlos weggelassen oder hinzugefügt werden. Es sind zwar vorgefertigte Charaktere vorhanden, diesen wurden jedoch teilweise Liebesbeziehungen gegeben. Für Spieler:innen, die sich untereinander noch nicht so gut kennen und deshalb unwohl fühlen könnten, ist es deshalb ratsam, Charaktere selbst zu erstellen.
Spielbarkeit aus Spieler:innensicht
Die Regeln sind einfach und schnell zu erfassen und gut umzusetzen. Auch das Kampfsystem ist leicht verständlich. Dadurch stehen die Regeln nicht im Weg, was das Zurechtfinden in der Spielwelt erleichtert. Vieles ist vertraut und Neues lässt sich gut aneignen.
Positiv hervorzuheben sind vor allem die diverse Charaktergestaltung, die besondere Rolle der Tiere und der Fokus auf zwischenmenschliche Themen. Dadurch ist es spannend, die gemeinsame Entwicklung der Charaktere zu beobachten.
Auch leistet das System großartige Arbeit darin, die verschiedensten Arten von Individuen und Lebensentwürfen so in die Welt einzuweben, dass es völlig normal und kein „großes Ding“ ist.
Etwas skeptisch wurde der hohe Grad an romantischen Beziehungen betrachtet, den das System im Normalfall vorsieht. Dies fällt einer Gruppe sicherlich leichter, wenn sie sich bereits lange und gut kennt, sodass sich niemand unwohl fühlt.
Insgesamt hat das Abenteuer in jedem Fall Lust gemacht, erneut in die Welt von Blue Rose einzutauchen und die Facetten von Aldea und die Regeln kennenzulernen, die durch diesen ersten Ausflug noch nicht behandelt wurden.
Spielbericht
Gespielt wurde das Szenario „The Rhy-Wolf´s Woe“ aus dem Schnellstarter für Blue Rose. Drei selbsterstellte Charaktere nahmen sich der Aufgabe an:
Merle Vel, menschliche Expertin. Sie gehört den stets reisenden Roamern an. Merle ist eine Schaustellerin und Akrobatin, die ihre Großfamilie, Musik und Gesang liebt. Besonders ihrer großen Schwester Tha´astra steht sie sehr nahe.
Tha´astra Vel, eine Kriegerin der Night People. Sie wurde als kleines Mädchen von den Roamern aufgenommen und schützt diese neue Familie, insbesondere ihre kleine Schwester Merle.
Malachai Khelvid, ein Adept der Vata. Er ist der Spross einer wohlhabenden Familie in Aldis und genoss eine umfassende magische Ausbildung. Seit Merle und Tha’astra ihn aus einer misslichen Lage befreiten, begleitet er die beiden Schwestern.
Spieler:innen sollten den folgenden Teil überspringen, um Spoiler zu vermeiden.
The Rhy-Wolf‘s Woe
Die Charaktere sind in einem Wald im nördlichen Teil von Aldis unterwegs, als ihnen unvermittelt ein Wolf begegnet. Doch anstatt anzugreifen, nimmt er telepathisch Kontakt zu ihnen auf und stellt sich als ein Rhydan namens Frostwind heraus. Er bittet sie um Hilfe und erzählt ihnen von seiner Freundin, einer Rhydan-Wölfin namens Graumähne. Sie berichtete ihm vor einiger Zeit vom Menschenjungen Markas, zu dem sie eine starke Verbindung spürte, doch sein Vater jagte sie zu ihrem Bedauern davon. Frostwind vermutet, dass sie erneut Kontakt zu dem Jungen suchte, doch nun hat er sie seit Tagen nicht mehr gesehen. Da er sich Sorgen macht, bittet er die Charaktere, nach ihr zu suchen.
Die Drei machen sich sofort auf den Weg zum Dorf, in dem der Junge wohnt. Dort lernen sie schnell dessen Vater Jatos kennen. Er ist besorgt und aufgebracht, da sein Sohn Markas verschwunden ist. Ein Gespräch mit der Bürgermeisterin zeigt den Charakteren ihr nächstes Ziel: eine alte Ruine, in denen die Sorcerer in den vergangenen dunklen Zeiten ihre Magie ausübten. Der Ort ist zwar gefährlich, aber die Drei vermuten, dass Markas und Graumähne dort Unterschlupf suchen wollen, um in Ruhe gelassen zu werden.
Im tiefen Wald ist es immer besser, nicht allein unterwegs zu sein.
Der Weg führt sie weiter in den Wald hinein, dessen Tiefen nicht ohne Grund bei der Bevölkerung sagenumwoben sind. Doch kein mythisches Wesen, sondern ein einfacher Bär stellt das erste große Hindernis des Abenteuers dar. Den gemeinsamen Angriffen von Merles Bogen, Malachais Magie und Tha´astras Schwert hat er nicht lange etwas entgegenzusetzen und haucht bald darauf sein Leben auf dem Waldboden aus.
Nach einigen Stunden Fußmarsch treffen die Drei schließlich auf eine einsame Hütte, die jedoch bewohnt zu sein scheint. In der Hoffnung, Neuigkeiten von Markas und Graumähne zu erhalten, klopfen sie an. Und so treffen sie auf Galthi von den Night People. Sie erzählt ihnen, dass sie die beiden tatsächlich vor ein paar Tagen in einiger Entfernung gesehen hat und es ihnen gut zu gehen schien.
Ermutigt von diesen Neuigkeiten geht die Reise am nächsten Tag weiter. Ein vor kurzem verlassenes Nachtlager gibt ihnen weitere Hoffnung, bald auf die Vermissten zu treffen. Endlich an der Ruine angekommen müssen sie feststellen, dass sie gerade noch rechtzeitig sind, denn Markas und Graumähne haben offensichtlich eine Gruppe Untoter auf sich aufmerksam gemacht und werden von ihnen angegriffen. Insbesondere Markas sieht bereits schwer mitgenommen aus. Die drei Charaktere greifen ohne zu zögern ein und können die Gegner nach einem schnellen Kampf besiegen. Sie bringen den Jungen und die Wölfin zurück ins Dorf und vermitteln dort zwischen allen Beteiligten, sodass Markas und Graumähne zusammenbleiben können.
Erscheinungsbild
Das Buch weist 384 Seiten auf und ist durchgängig vollfarbig. Besonders beeindruckend sind die vielen hochwertigen Illustrationen. Lediglich der Stil mancher NSC-Portraits will nicht ganz zum Rest passen. Manche Illustrationen wirken sehr idealisiert, was jedoch dem „romantic fantasy“-Setting geschuldet sein könnte.
Das Regelwerk enthält sehr viel Fließtext, was stellenweise erschlagend wirkt. Dafür sind insbesondere Beschreibungen so interessant zu lesen, dass man sich schnell darin verliert. Die Navigation wird durch regelmäßige und viele Überschriften, sowie einen Index erleichtert. Zudem wird der Text immer wieder durch Beispiele, Kästen mit Extra-Informationen, Tabellen und Illustrationen aufgelockert.
Fazit
Blue Rose ist ein Rollenspiel im Bereich der romantischen Fantasy, weswegen Beziehungen jeglicher Art, Romanzen und Gefühle eine große Rolle spielen. All dies wird den Spielenden jedoch nicht aufgezwungen. Vielmehr kann man es auf einen Grad anpassen, der für die eigene Gruppe angenehm ist – und wenn man sich daran gewöhnt hat, lässt sich der romantische Anteil nach und nach erhöhen. Das System bietet viele Möglichkeiten, das Setting nach den eigenen Wünschen anzupassen: sei es High Fantasy, etwas Horror oder in der nächsten Kampagne doch lieber ein bisschen mehr Romantik und Intrigen.
Zudem bietet Blue Rose vom fast schon utopischen „Aldis“ bis hin zum dystopischen „Kern“ – und allem, was dazwischen liegt – eine vielfältige und diverse Welt. Selbst mit wenigen Völkern und Klassen ist es möglich, die unterschiedlichsten Charaktere zu erschaffen, da ihnen auch anderweitig Möglichkeiten gegeben werden, besonders zu sein.
Das Regelwerk selbst beinhaltet mit beachtlichen 384 Seiten alles, was zum Spielen benötigt wird und darüber hinaus Unmengen an Hintergrundinformationen. Allein der Teil für die Spielleitung ist über einhundert Seiten lang und gibt viele Vorschläge, Tipps und Ratschläge, das kaum eine Frage offenbleiben dürfte. Ähnliches gilt für den Teil, der die Spieler:innen betrifft
Selbst für Leute, die intensives Charakterspiel noch nicht für sich entdeckt haben, kann sich also ein Blick auf Blue Rose lohnen. Aldea wartet darauf entdeckt zu werden!
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https://www.teilzeithelden.de/2022/01/10/ersteindruck-root-the-roleplaying-game-magpie-games-gar-nicht-so-niedlich/
Ein geheimnisvoller Wald, bevölkert von putzig ausschauenden Fabelwesen - das erscheint wie das Setting eines Rollenspielsystems für Kinder. Doch in Root, basierend auf dem gleichnamigen Brettspiel, gibt es knallharte Abenteuer zu erleben, finstere Intrigen aufzudecken und sogar die Fraktionen eines Bürgerkriegs gegeneinander auszuspielen.
Das Brettspiel Root - A Game of Woodland Might and Right von Leder Games hat seit seinem Erscheinen 2018 etliche Preise gewonnen. Fans mögen das Strategiespiel wohl auch wegen seiner narrativen Elemente und dem bildschönen Artwork. Jetzt hat der Verlag in Kooperation mit dem Rollenspielverlag Magpie Games nach einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne 2020 ein Rollenspielsystem in der gleichen Spielwelt herausgebracht. Es heißt Root – The Roleplaying Game und kann bereits als PDF erworben und als Hardcover vorbestellt werden. Ich habe es mir für euch angesehen.
Die Spielwelt
Im Brettspiel zu Root- The RPG konkurrieren die Spielenden um die Kontrolle des so genannten "Waldlandes", das auch den Schauplatz für das darauf basierende Rollenspiel bietet. Das Waldland ist ein ausgedehntes Forstgebiet, das von anthropomorphen Tieren bewohnt wird: Vögeln und Eichhörnchen, Dachsen, Waschbären und anderen kleinen Wesen des Waldes. Sie sind dabei allerdings ausgestattet mit menschlicher Intelligenz, der Fähigkeit, Werkzeuge und Waffen zu benutzen, Kleidung und Rüstungen zu tragen und eine mehr oder weniger komplexe Kultur aufrechtzuerhalten. Menschen gibt es in dieser Welt nicht. Wir befinden uns im Bereich der Fabeln: Die Frage, ob ein Vogel Hände hat oder wie ein Fuchs eine Armbrust bedienen kann, ist im Zweifelsfall nicht allzu wesentlich. Die Tiere leben in den sogenannten Lichtungen, kleinen Städtchen oder Dörfern, die miteinander durch in den Wald geschlagene Pfade verbunden sind.
Trügerische Niedlichkeit: Auf die Charaktere in Root warten knallharte Abenteuer.
Man kann diese Welt als "Mittelalter mit einem Hauch von Steampunk und Fantasy" beschreiben: Im dichten, düsteren Forst jenseits der Lichtungen stehen zwar überwucherte Ruinen, die uralte Geheimnisse bergen und es lauern Gefahren, die nicht immer von dieser Welt erscheinen, aber er strotzt keinesfalls so vor Magie wie man es von High-Fantasy-Settings gewöhnt ist. Eher muss man sich dort vor Banditen und wilden Bären fürchten. Ebenso gibt es zwar schon Institutionen und Individuen, die mit Geschick und den richtigen Materialien hochkomplexe Maschinen bauen können, aber im Industriezeitalter ist die Gesellschaft des Waldlandes allgemein noch nicht angekommen. Ein Setting mit technologischen und fantastischen Grenzen also, die im Spiel auf vielfältige Art ausgelotet werden können.
Die Niedlichkeit der Illustrationen (siehe unten) ist trügerisch: Der Hintergrund, vor dem Root spielt, ist eine vom Bürgerkrieg zerrissene Gesellschaft, in der Zivilist:innen nur Spielball der Mächtigen sind, die miteinander um die absolute Kontrolle des Waldlandes ringen. Auf einer Seite stehen die "Dynastien der Eyrie", verschiedene Clans von Vögeln, die einst die Herrscher waren, sich aber immer wieder durch Putsche und Revolten gegenseitig vom Thron stießen und letztlich in internen Machtkämpfen untergingen. Nun planen sie ihre Rückkehr an die Macht. Auf der anderen Seite eine Invasion von technisch fortgeschrittenen, kolonialistischen Katzen, die es auf die Ressourcen des Waldlandes abgesehen haben. Dazwischen stehen eine Fraktion selbsternannter Freiheitskämpfer:innen, die ihre eigene Agenda verfolgt, und die Zivilbevölkerung, die unter all dem natürlich am meisten leidet.
Auch die SC sind nicht im klassischen Sinne Held:innen. Vielmehr sind sie Ausgestoßene, Abenteuersuchende und Heimatlose. Sie fühlen sich keiner der sich bekriegenden Fraktionen zugehörig, passen aber auch nicht in die zivile Gesellschaft. Sie haben besondere Fähigkeiten, die sie prädestinieren, außergewöhnliche und gefährliche Aufträge für verschiedene Seiten zu erledigen, dabei möglicherweise zwischen die Fronten zu geraten und dennoch mit heilem Pelz, Schuppen oder Federn herauszukommen - eine gewisse Ähnlichkeit dieser Prämisse zu der von Shadowrun sticht trotz der gänzlich unterschiedlichen Spielwelt ins Auge.
Ein Wald voll putziger Tierwesen und ein von ständigem Bürgerkrieg geplagter, gescheiterter Staat, in dem zähe Antiheld:innen teilweise zweifelhafte Abenteuer erleben: Die beiden kontrastierenden Seiten des Settings sind nur scheinbar unvereinbar. Allgemein ist die Spielwelt stimmig beschrieben und die Fabelumgebung nimmt dem doch recht düsteren Bürgerkriegsszenario soweit die Schärfe, dass man Lust bekommt, darin zu spielen.
Die Regeln
Das Regelsystem von Root ist narrativ. Die Spielleitung ist angehalten, Situationen zu beschreiben und den Spielenden die Gelegenheit zu geben, ihre Aktionen und Reaktionen entsprechend zu gestalten. Das Regelbuch nennt dies "Die Konversation". Es wird detailreich und teilweise an Beispielen beschrieben, was eine Rollenspielsituation ausmacht und wie sie gelöst werden kann. Das ist für "alte Hasen" zwar etwas ermüdend zu lesen, aber für Rollenspielneulinge, die etwa vom Brettspiel zu Root - The RPG gekommen sind, kann das nützlich sein. Wenn doch einmal gewürfelt werden muss, was nur dann passiert, wenn Spielende eine unsichere Aktion ansagen - die SL würfelt nicht, sondern entscheidet, was passiert - kommen 2W6 zum Einsatz, deren Augen zusammengezählt werden. Grundsätzlich zählt jedes Ergebnis ab 7 oder höher als Erfolg, jedoch ist auch hier ein narratives Element dabei: Man kann die Ergebnisse auch eher als eine Art Spektrum begreifen, wobei gilt, je höher die geworfene Augenzahl, desto besser ist auch das Ergebnis für die würfelnde Person.
Die verschiedenen Aktionen, die Spielende ansagen können, um eine Situation zu lösen, werden "Moves" genannt. Jeder Charakter hat einige Moves, die ihm speziell liegen (und die in den zugehörigen "Playbooks" zu finden sind, siehe unten), es gibt aber auch allgemeinere, wie etwa "einen NSC täuschen" oder "eine Situation einschätzen". Obwohl die meisten Situationen narrativ gelöst werden, liegt doch eine recht ausführliche Liste von Moves als Handreichung für die Spielleitung bei. Somit wäre das Regelwerk auch für Neu-SLs geeignet.
Die Regeln sind allgemein verständlich und nachvollziehbar beschrieben, auch wenn manche davon in der Charaktererschaffung schon vorgegriffen werden, was unnötiges Blättern verursacht.
Charaktererschaffung
Jeder SC im Spiel basiert auf einem so genannten "Playbook", einem individuell vorgegebenen, zweiseitigen Charakterblatt. Jedes Playbook entspricht einer Art Archetyp, von denen neun im Buch vorgegeben sind. Jedes Playbook darf nur einmal verwendet werden, damit die "Vagabund:innen" also die Charaktere, sich in der Gruppe optimal ergänzen. Über diese Aufgabenverteilung hinaus können die Charaktere aber durchaus individualisiert werden. Die Playbooks bieten die Möglichkeit, nicht nur Name, Spezies, Geschlecht und Aussehen des Charakters festzulegen, sondern auch individuelle Eigenschaften, Fähigkeiten, Motive und Beziehungen. Jeder Charakter hat fünf Eigenschaften: Charm (Charme), Cunning (etwa: Schlauheit), Finesse (Geschick), Luck (Glück) und Might (etwa: Stärke), von denen je eine einen Bonus von +2, eine einen von +1 und eine einen Malus von -1 bekommt, je nachdem, welches Playbook gespielt wird. Dazu wird noch ein weiterer +1 Bonus auf eine Eigenschaft nach Wahl vergeben. Diese Boni bzw. Mali werden dann wichtig, wenn im Spiel die 2W6 gewürfelt werden. Die Spielleitung entscheidet, welche Eigenschaft für die Aktion der:des Spielenden passend ist.
Das Buch empfiehlt, bei der ersten Sitzung ein bis zwei Stunden Zeit für die Charaktererschaffung einzurechnen. Dies erscheint allerdings ziemlich großzügig, zumindest für Rollenspiel-Erfahrene. Hier zeigt sich wieder, dass das System auch für Neuzugänge in der Rollenspielwelt entworfen zu sein scheint - etwa für Fans des Brettspiels, die sich dadurch haben inspirieren lassen. Dafür gibt es allerdings einige Spezialbegriffe wie beispielsweise "Depletion" für endliche Ressourcen, die die Charaktere mit sich tragen, die sowohl neue Spielende als auch alte Häschen verwirren können.
Erscheinungsbild
Wie bereits erwähnt, sind die Hauptfiguren dieser Welt - SC wie NSC - kleine Waldtiere wie Vögel, Füchse, Mäuse, Katzen und Kaninchen, die in den Wald ziehen, um Abenteuer zu erleben, kämpfen oder Handel und Handwerk zu treiben. Daran lässt sich vielleicht erahnen, wie überaus putzig die Illustrationen von Kyle Ferrin im gesamten Regelbuch sind. Das Artwork hält sich im Stile des Brettspiels und ist im Gegensatz zu den teilweise düsteren Thematiken der Spielwelt durchgehend hell und freundlich, auch wenn die dargestellten Charaktere mit Schwert oder Armbrust hantieren. Das Buch ist nicht mit Illustrationen überfrachtet, aber ausreichend und wunderschön bebildert. Auch das textliche Layout des PDFs ist generell lesefreundlich und bildhübsch gestaltet. Es liegen einige individualisierbare Karten des Waldlandes in verschiedenen Jahreszeiten bei.
Bisher ist die Hardcover-Version nur vorzubestellen, allerdings kündigt Magpie Games bereits eine Deluxe-Ausgabe im Schuber an - und die Gestaltung macht schon Lust darauf.
Fazit
Shadowrun im Märchenwald - das mag dramatisch klingen, aber so könnte man das Rollenspiel zum mehrfach preisgekrönten Brettspiel Root tatsächlich beschreiben. Seine Charaktere mögen zwar Fabelwesen von großer Putzigkeit sein, aber die Welt, in der sie leben ist alles andere als idyllisch. Vielmehr ist sie eine Bürgerkriegszone, in der verschiedene Fraktionen erbittert um die Vorherrschaft kämpfen, und in deren dunklen Wäldern noch dazu ganz andere Gefahren lauern. Dementsprechend sind auch die SC eher Antiheld:innen, die gerne auch einmal Aufträge von zweifelhafter Moral annehmen. Wir befinden uns dabei im Land der Fabeln: Die Einwohner:innen des Waldlandes sind anthropomorphe Versionen kleiner Waldtiere, die in einer quasi-mittelalterlichen Gesellschaft leben. Allerdings sollte das niemanden aufhalten, der sich knallharte Action wünscht, denn auch die kann die Spielwelt bieten. Das Regelsystem ist narrativ und leicht verständlich und das Artwork durchgehend so schön, dass das PDF schon Lust macht, das Hardcover zu erwerben. Klare Empfehlung!
Dieser Ersteindruck basiert auf der Lektüre von Grundregelwerk und zusätzlichem Spielmaterial (Karten, Charakterbögen bzw. Playbooks). Ein Spieltest ist geplant.
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https://www.teilzeithelden.de/2021/11/23/rezension-eyes-unclouded-tineke-bolleman-u-a-ghibli-film-als-pen-and-paper/
Berühmte Filmschmiede trifft Dungeons & Dragons – der Abenteuerband Eyes Unclouded enthält elf Abenteuer, inspiriert von Filmen aus dem Hause Ghibli. Dabei reicht die Palette von niedlichen One-Shots bis hin zu unterhaltsamen Sidequests. Ob die Geschichten nicht nur bekennende Fans japanischer Animation überzeugen können, erfahrt ihr hier.
„ICH WILL DIE WAHRHEIT MIT UNGETRÜBTEN AUGEN UND EINEM REINEN HERZEN SEHEN!“
– PRINZ ASHITAKA, PRINZESSIN MONONOKE
Für viele Menschen haben die Filme von Studio Ghibli einen ganz besonderen Platz in ihren Herzen. Die Geschichten des Regisseurs Hayao Miyazaki haben sie mit schönen Kindheitserinnerungen an Ponyo oder Mein Nachbar Totoro tief geprägt oder mit dramatischen Szenen aus Laputa oder Prinzessin Mononoke zum Nachdenken angeregt. Ähnlich geht es auch den Autor:innen von Eyes Unclouded. Angelehnt an Miyazakis Welten und Charaktere finden sich im Abenteuerband mehrere Szenarien, die versuchen, diese Nostalgie im Pen-and-Paper erlebbar zu machen. Basis ist die aktuell populäre 5. Edition von Dungeons & Dragons.
Inhalt
Der Abenteuerband enthält insgesamt elf Szenarien, die sich an bekannten Ghibli-Klassikern orientieren. Wer schon immer einmal selbst eine Handlung wie in Das Königreich der Katzen, Kikis kleiner Lieferservice oder Ponyo nachspielen wollte, hat bei Eyes Unclouded die Chance dazu. Die Erzählungen sind keinesfalls nur süß und fröhlich – in den Abenteuern für höhere Level werden auch ernstere Themen in den Blick genommen. So etwa der Konflikt zwischen Fortschritt und Natur und die Eitelkeit der Menschen, welches bekannte Motive aus Filmen wie Prinzessin Mononoke, Das Wandelnde Schloss oder Nausicäa aus dem Tal der Winde sind. Gerade der Mix der japanischen Erzählweise verbunden mit moralischen Fragen schafft dabei die Grundlage für interessantes Rollenspiel.
Für Kenner der Vorlagen finden sich immer wieder deutliche Hommagen, seien es ein Naturgeist in Hirschform oder eine Flugmaschine aus einer längst untergegangenen Zivilisation. Der Abenteuerband ist zusammengenommen eine Liebeserklärung an das Studio Ghibli, von Fans für Fans. Die Geschichten können auch ohne Vorkenntnis problemlos von den Spielenden durchlebt und bestanden werden; wer die popkulturellen Anspielungen aber versteht, wird sich womöglich doppelt freuen.
Eines der acht Rezepte aus dem Abenteuerband.
Neben dem Abenteuerhunger kann Eyes Unclouded auch den tatsächlichen Hunger stillen. Dazu gibt es im PDF acht Rezepte für Süßspeisen, Eintopf oder Küchlein, die sich jeweils an einer der Geschichten orientieren. Durch hilfreiche Mengenangaben in Cups wie in Gramm muss auch nicht unnötig umgerechnet werden.
Spielbarkeit aus Spielleitungssicht
Eine Anmerkung vorweg: Eyes Unclouded ist nur auf Englisch erhältlich, eine Übersetzung ist aktuell nicht geplant. Inhaltlich sind die Texte mit durchschnittlichem Schulenglisch verständlich und sollten für die Spielleitung (SL) kein Problem darstellen.
Was den Inhalt des Abenteuerbands angeht, wird die SL ein solider Grundbau zur Verfügung gestellt. Alle Szenarien sind in sich gut strukturiert und bieten neben Beschreibungen der jeweiligen Umgebungen auch viele kleine Kniffe für passendes Rollenspiel, beispielsweise bei der Darstellung magischer Wesen. Viele Begebenheiten und Umstände sind klare Anspielungen auf Szenen der jeweiligen Filme, was für einige Nostalgie beim Ausspielen sorgen kann.
Das ist tatsächlich einer der wenigen Kritikpunkte, die beim Abenteuerband nicht bestritten werden können: In den Szenarien wird das Rad nicht neu erfunden. Viele Dinge sind mit entsprechendem Vorwissen schnell zu durchschauen. Das muss nichts Schlechtes sein, gerade wenn die Spielenden unbedingt ein ihren Lieblingsfilmen ähnliches Abenteuer erleben wollen. Wer seine Spielenden aber unbedingt überraschen möchte, sollte sich besser Menschen ohne bisherigen Kontakt mit Ghibli suchen. Für diese sind es tatsächlich neue Geschichten, die sie erleben und sogar mitgestalten können. Sollte das Ergebnis nicht ideal sein, ist anschließend ja noch ein DVD- oder Blu-ray-Abend mit dem passenden Film möglich. Oder Ghibli-Kenner sind so begeistert, dass sie sich im Anschluss ein weiteres Mal das Original anschauen möchten.
Steckt hinter dem wütenden Wildschwein vielleicht nur ein anklagender Tiergeist?
Die einzelnen Szenarien verfügen über einen guten Appendix, angefüllt mit Kartenmaterial, Infos zu Belohnungen und magischen Gegenständen sowie Werten von Antagonisten. Apropos Antagonisten: in klassischer Ghibli-Manier versteckt sich hinter vermeintlich bösen Wesen oft nur ein erzürnter Geist oder eine moralisch ambivalente Figur. Statt sofort draufzuhauen, kann es für die Lösung der Aufgabe hilfreich sein, das Gespräch zu suchen oder Hilfe anzubieten. Hier und da gibt es auch kleine Rätsel, die gelöst werden müssen.
Positiv erwähnt werden muss die durchgehend gute Einbindung einiger LGBTQ+-Charaktere. Hinter jedem NSC findet sich eine kurze Angabe zur moralischen Gesinnung sowie den bevorzugten Pronomen. Die Autor:innen der Szenarien, teils selbst queere Personen, verstehen es, die Charaktere nicht nur als Gimmick auf ihre sexuelle Ausrichtung zu beschränken, sondern sie facettenreich darzustellen. Das sorgt zusammen mit passenden Beschreibungen für eine spannende und diverse Spielwelt.
Spielbarkeit aus Spielendensicht
Was die Charaktere in den Gruppen angeht, gibt es bei Eyes Unclouded keine Einschränkungen. Natürlich bietet es sich an, quirlige Werkmeister:innen oder die Samurai-Subklasse in dem asiatisch inspirierten Setting auszuprobieren, aber auch beispielsweise klassische Bard:innen oder Warlocks können problemlos in die Geschichten eingebunden werden. Wie schon für die SL gilt für die Spielenden: Kenntnis der Originale ist ein netter Zusatz, kein Muss.
Spielbericht
Für die Rezension wurde das erste Abenteuer Cinderling Herding von Tineke Bolleman getestet, welches für drei bis sechs Spielende zwischen Level 1 und 2 geeignet ist. Mit seinen Anlehnungen an Mein Nachbar Totoro und Chihiros Reise ins Zauberland lässt sich die Geschichte gerade für Kinder und Jugendliche gut leiten. Natürlich fand der niedliche Charme auch bei der Testgruppe im Alter von 20+ Anklang und wurde sehr gelobt. Wer Genaueres zur Handlung wissen will, schaue in den Spoilerkasten:
[spoiler title="Achtung, Spoiler"]
Zu Beginn des Abenteuers treffen die Charaktere auf die namensgebenden Cinderlinge, kleine lebendige Ruß-Kügelchen mit weißen Augen und piepsenden Stimmchen. Da das Dach ihres Heims kurz vor dem Einsturz steht, bitten sie die Gruppe darum, sie sicher durch den Wald in ein neues Zuhause zu führen. Die Aufgabe gestaltete sich für die Spielenden schwieriger als gedacht, denn in einem Rucksack oder ähnlichem verstaut, verliert ein Cinderling seine Magie und wird zu gewöhnlicher Asche.
Hinzu kamen mehr oder minder regelmäßige Ablenkungen wie Blumen und Insekten, die ein paar Ausreißer vom Weg abbrachten. Nicht zu unterschätzen war auch die Sprachbarriere, denn die kleinen Wesen konnten nur mit staksigen Händchen und hohen Piep-Lauten kommunizieren. Dennoch schafften die Charaktere es, die Cinderlinge sicher über einen Fluss und durch den Regen zu einem großen Haus im Wald zu bringen. Dort mussten noch ein paar kleine Feuer-Elementare besiegt werden, die in ihrem Hunger immer wieder nach den hilflosen Ruß-Kügelchen griffen. In ihrem neuen Kamin-Heim angekommen, bedankten sich die Cinderlinge für den Schutz mit magischen Sternen-Süßigkeiten bei den Charakteren.
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Erscheinungsbild
Für den Test lag die PDF-Version vor; über die Qualität des Hardcovers kann daher an dieser Stelle nichts gesagt werden. Das Layout der rund 180 Seiten orientiert sich am klassischen Aufbau anderer D&D-Abenteuer. Schön geordnet findet die Spielleitung in den einzelnen Geschichten kurze Texte zum Vorlesen, Zufallstabellen sowie Daten für Monster und relevante Gegenstände. Das Inhaltsverzeichnis hilft bei der Übersicht, eine Verlinkung von Kapitelmarken im PDF gibt es leider nicht.
Diese niedliche Katze ist nicht die einzige Illustration am Seitenrand bei Eyes Unclouded.
Wer schon immer Ghibli-Stimmung am Spieltisch haben wollte, sollte bei Eyes Unclouded zugreifen.
Geschmückt wird die Aufmachung von passenden Illustrationen, die zwar am Ghibli-Animationsstil angelehnt sind, aber von Geschichte zu Geschichte beziehungsweise Künstler:in zu Künstler:in immer einen eigenen Stil aufweisen. Besonders die Hauptbilder zu Beginn der Kapitel lassen mit ihrem Detailgrad jedes Ghibli-Fanherz höherschlagen. Eine Übersicht zu den sozialen Kanälen der einzelnen Künstler:innen findet sich am Ende des Abenteuerbands.
Neben dem Original-PDF gibt es auch eine weitere, äußerlich reduzierte PDF-Variante. Diese ist für das schnelle Lesen auf einem Bildschirm optimiert und damit eine nette Unterstützung für die Spielleitung. Die zweite Fassung ist zudem druckerfreundlich, enthält jedoch keine Karten der einzelnen Abenteuer.
Fazit
Es mag wie nostalgische Verklärung wirken, aber Eyes Unclouded bietet genau das, was es sein will: eine moderne Mischung aus Ghibli-Geschichten mit Dungeons & Dragons Regeln. Die Autor:innen machen keinen Hehl daraus, dass ihre Szenarien klare Hommagen an die bekannten Animationsfilme sind. In den Zeichnungen, Beschreibungen und Handlungen lässt sich überall Liebe von Fans am Original erkennen. Von niedlichen magischen Wesen bis zu moralischen Fragen wird die ganze Bandbreite innerhalb der elf Geschichten abgedeckt. Dabei sind die Abenteuer für die Spielleitung detailreich und übersichtlich gestaltet sowie mit hübschen Zeichnungen verziert.
Wer schon immer Ghibli-Stimmung am Spieltisch haben wollte, sollte bei Eyes Unclouded zugreifen.
Mit Szenarien von Level 1 bis 14 ist auch genügend Spannweite geboten, um einen kurzen One-Shot in bestehende Runden oder als Abwechslung für zwischendurch einzubauen. Hinzu kommen acht Rezeptideen passend zur jeweiligen Handlung, um den Spielabend am Tisch abzurunden. Sehr positiv hervorzuheben ist auch die Diversität der NSC sowie die Nennung der bevorzugten Pronomen. Wer schon immer einmal selbst Held:in in einem Ghibli-Film sein wollte, bekommt hier die Chance dazu. Das PDF hat gemessen an den elf Szenarien zusammen mit den Kochrezepten einen überaus fairen Preis. Inwiefern die Hardcover-Fassung da mithalten kann, muss an dieser Stelle leider offenbleiben. Für große Fans ist der Kauf des Buches aber vielleicht eine zusätzliche Überlegung wert.
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Cthulhu: Berlin – Welthauptstadt der Sünde ist ein überaus gelungener Rundumblick in das Berlin der 20er Jahre geworden. Nicht nur werden die Stadt und ihre Bewohner*innen überaus detailliert beschrieben, sondern ebenso viel Wert auf Sandbox-Elemente gelegt. Ein eigenes Berlin mit selbsterstellten Kneipen, Klubs und Cafés ist schnell erstellt. Dazu kommen noch die zahlreichen offenen Plot-Hooks, womit der Spielspaß auch über die drei beigefügten Abenteuer hinaus gesichert ist.
Einige kleinere inhaltliche Fehler haben sich dennoch eingeschlichen, sind aber vielleicht der amerikanischen Perspektive geschuldet. Etwa, wenn Kriminalkommissar*innen durchgehend als „Inspektoren“ bezeichnet werden oder SA-Männer auf Bildern mit Mitgliedern der Polizei gleichgesetzt sind.
Dennoch warten die gut aufbereiteten drei Abenteuer mit gewichtigen Themen auf und betreiben keine falsche Romantisierung der Zeit, etwa was Armut, Prostitution oder Gewalt angeht. Dies macht die Szenarien aber nicht unbedingt für Neulinge geeignet. Kenntnis der persönlichen Grenzen der Mitspielenden sowie ein solides Allgemeinwissen über die Zeit der Weimarer Republik sollte bei allen vorhanden sein.
Wer sich damit anfreunden kann, dürfte bald schon selig im Sündenbabel versinken.
Mehr zum Buch auf https://www.teilzeithelden.de/2021/09/30/rezension-cthulhu-berlin-welthauptstadt-der-suende-pegasus-die-wilden-mythos-zwanzigerjahre/
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https://www.teilzeithelden.de/2021/09/27/ersteindruck-scp-the-tabletop-rpg-secure-contain-protect/
Im Geheimen agiert die SCP Foundation, um die Welt vor oftmals gefährlichen Anomalien zu retten – den SCPs. Sie werden gesichert, verwahrt und geschützt. Die Erforschung, nicht ihre Zerstörung ist das Ziel. Als Mitarbeiter:in gehörst du zu dieser weltweit agierenden Organisation. Wie wirst du deinen Teil zum Schutz der Welt beitragen?
SCP – The Tabletop RPG, herausgegeben von 26 Letter Publishing, ist ein Rollenspiel von Fans für Fans des SCP-Universums. Initiative und Hauptarbeit lagen hierbei bei Jason Keech. Von Januar bis Februar 2021 wurde das Projekt erfolgreich auf Kickstarter finanziert, seit Mitte des Jahres ist das Rollenspielsystem erhältlich.
Zum SCP-Hintergrund: In der realen Welt ist die SCP Foundation ein webbasiertes Projekt für kollaboratives Schreiben. Autor:innen verfassen hierzu Artikel über von ihnen erdachte Anomalien, sogenannte SCPs, in einer pseudo-wissenschaftlichen Schreibweise. Dabei werden die Anomalien und ihre Eindämmungsmaßnahmen beschrieben, wobei oft besondere Vorfälle, Anmerkungen und Versuche dokumentiert werden. Um die Texte noch authentischer zu machen, werden Textstellen, die offensichtlich kritische Informationen enthalten, geschwärzt.
Dies spielt sich in einem fiktiven Universum ab, in welchem die SCP Foundation die SCPs sicherstellt und erforscht. Im vorliegenden SCP – The Tabletop RPG schlüpft man in die Rollen von Mitarbeiter:innen dieser Organisation.
Die Spielwelt
Die SCP Foundation ist eine weltweit agierende Geheimorganisation in einem fiktiven Universum, die damit beauftragt wurde, entdeckte Anomalien zu sichern, zu verwahren, zu schützen und zu erforschen, um sie vollständig zu verstehen. Diese Anomalien können dabei jede erdenkliche Form annehmen: von Objekten über Lebewesen bis hin zu Orten. Die Foundation verfügt über nahezu unbegrenzte Mittel, um ihre Aufgaben zu erfüllen. Denn manche Anomalien – oder SCPs – sind so gefährlich, dass sie das Ende der Welt auslösen können. Die Menschheit darf deshalb nie etwas über diese SCPs erfahren, da ansonsten eine Massenpanik als sicher gilt.
Secure.
Entdeckte Anomalien müssen gesichert werden.
Contain.
Gesicherte Anomalien müssen entsprechend verwahrt werden.
Protect.
Verwahrte Anomalien müssen geschützt werden. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Welt vor ihnen geschützt wird.
Unzählige Mitarbeiter:innen sorgen für einen möglichst reibungslosen Ablauf, doch die Arbeit mit unbekannten und gefährlichen SCPs lässt sich nie genau vorhersehen. Die Aufgaben und Zugänge des Personals sind klar geregelt. Zum einen durch die „Personnel Classification“, die von Class A bis Class E reicht. Beispielsweise sind Personen der Klassifikation A von größter Wichtigkeit für die Foundation und dürfen deshalb mit SCPs nicht in Kontakt kommen. Personal der Klassifikation D hingegen ist entbehrlich und wird insbesondere für Versuche mit gefährlichen SCPs verwendet. Meist handelt es sich bei Klasse-D-Personal um Menschen mit langen Gefängnisstrafen oder gar zum Tode Verurteilte.
Das „Security Clearance Level“ des Personals reicht von Level 0 bis 5 und beschreibt den Zugang zu Informationen, den eine Person hat. Doch selbst hierbei werden oft nur so viele Informationen preisgegeben, wie es nötig ist. Dies betrifft zum Beispiel Daten zu SCPs, um mit ihnen arbeiten zu können.
Die Spieler:innen verkörpern solches Personal der Foundation. Sei es im Bereich Sicherheit, Wissenschaft, Technik oder etwas anderes. Die Foundation hat viele Mitarbeiter:innen und dementsprechend vielfältig ist die Auswahl. In den meisten Szenarien wird für die Charaktere der Spieler:innen eine Class C und Level-2-Freigabe (die jedoch erhöht werden kann, wenn man sich entsprechend den Standards der Foundation verhält) empfohlen. Dies bedeutet, dass sie direkten Zugang und Informationen zu SCPs haben, die nicht als gefährlich oder feindselig eingestuft wurden. Es ist jedoch auch möglich, ein Szenario etwa als Klasse-D-Personal zu beginnen.
Die SCPs selbst werden in verschiedene Kategorien eingeteilt. Die erste Einteilung etwa ist die sogenannte „Containment Class“ und erfolgt anhand der Schwierigkeit, eine Anomalie erfolgreich und dauerhaft zu verwahren und der Menge an Ressourcen, die dafür benötigt werden. Hierzu gibt es, in aufsteigender Reihenfolge, die Kategorien „Safe“, „Euclid“ und „Keter“.
Um eine Vorstellung von der Vielgestaltigkeit der SCPs zu bekommen, hier drei Beispiele:
SCP 173: Eines der bekanntesten SCPs. Es ist eine annähernd humanoide Statue aus Beton, die ein extrem feindseliges Verhalten an den Tag legt. Solange es beobachtet wird ist es reglos. Sobald der Blickkontakt unterbrochen wird, sei es nur durch Blinzeln, kann es sich unnatürlich schnell bewegen und wird Personen in der Nähe durch Genickbruch töten.
SCP 682: Auch bekannt unter dem Namen „Hard-to-Destroy Reptile“. Dieses SCP ist ein intelligentes, der menschlichen Sprache mächtiges, reptilienartiges und sehr tödliches Lebewesen, das einen unbändigen Hass auf jegliches Leben verspürt. Unzählige Versuche haben ergeben, dass es zwar verletzt, aber nicht getötet werden kann. Vielmehr passt es sich an, wodurch es immer schwieriger wird, ihm zu schaden.
SCP 3008: Bei dieser Anomalie handelt es sich um eine IKEA-Filiale, die im Inneren unendlich ist. Da Personen, die das Gebäude betreten, zunächst nichts von dieser Unendlichkeit bemerken, ist es ihnen so gut wie unmöglich, es wieder zu verlassen. So haben sich ganze Gemeinschaften von gefangenen Menschen gebildet, die sich nachts gegen das dann feindlich werdende, deformierte Personal wehren müssen.
Das Regelwerk bietet die Beschreibung einer Anlage der Foundation, mit Lageplänen und NSC, die dort arbeiten, lässt der Spielleitung und den Spieler:innen ansonsten große Freiheiten in der Ausgestaltung weiterer Anlagen. Generell wird vor allem beschrieben, wie die Foundation organisiert ist. Welches Personal, Szenario oder an welchem Ort man spielt ist dabei relativ offengehalten. Es gibt zwar Empfehlungen, was etwa das Sicherheitslevel der Charaktere zu Beginn angeht, diese gelten jedoch eher als Richtlinien.
Die Regeln
Die am häufigsten verwendeten Würfel in diesem System sind der W8, W10 und W12. Um eine Probe zu machen, greift man auf einen variierenden Pool dieser drei Würfelarten zu. Wie sich dieser Pool zusammensetzt, hängt davon ab, wie viele der Würfel bei der Charaktererstellung für eines der insgesamt acht Attribute gekauft wurden. Es dürfen maximal vier Würfel verwendet werden, die beiden höchsten Ergebnisse werden addiert und mit dem Wert einer passenden Fertigkeit verrechnet. Das finale Ergebnis muss eine von der Spielleitung festgelegte Schwierigkeit – im Normalfall zwischen 11 und 14 – erreichen oder übersteigen.
Mit etwas Glück können bessere Ergebnisse erzielt werden, als es eigentlich möglich wäre – durch die Mechanik der „Exploding Dice“: Jede maximal gewürfelte Augenzahl erlaubt das Werfen des nächstgrößeren Würfels. Zeigt also beispielsweise ein W8 eine Acht, dann darf zusätzlich ein W10 gewürfelt werden. Zeigt dieser wiederum eine Zehn, dann dürfen 2W12 zusätzlich gewürfelt werden. Auf diese Weise wird die Chance vergrößert, ein hohes Ergebnis zu erzielen.
Neben den Kapiteln ist das Regelwerk in fünf Abschnitte eingeteilt, die den Security-Leveln 0 bis 5 entsprechen. Die Kapitel im Abschnitt zu Level 0 können von allen gelesen werden. Mit jedem höheren Level sollte der Zugang immer weiter begrenzt werden. Empfohlen wird, den Spieler:innen zunächst vorrangig Zugang zu den Abschnitten zu gewähren, die dem Security Clearance Level ihrer Charaktere entsprechen. Der Abschnitt zu Level 5 ist hingegen der Spielleitung vorbehalten und enthält unter anderem Tipps, Ideen für Szenarien und eine Anleitung, um weitere SCPs mit dem Regelsystem zu entwerfen.
Insgesamt gibt es viele hilfreiche und interessante Informationen zur Foundation, somit jedoch auch eine Menge Text, der erst einmal gelesen werden will. Die nicht minder umfangreichen Regeln können im Spiel viel hin- und herblättern verursachen und an dieser Stelle nicht alle aufgelistet werden. Als Beispiel sei der Kampf genannt, der zwar recht realistisch ist, dadurch aber sehr viele Sonderregeln beinhaltet. So gibt es bei Feuerwaffen den „HIP Stance“, „READY Stance“ und „AIM Stance“, um eine Waffe abzufeuern. Je nach Haltung, aus der gefeuert wird, bekommt man einen Bonus oder Malus auf den Angriffswurf. Hat die Waffe einen Rückstoß oder bewegt man sich während des Zielens, wird die Haltung auf ein niedrigeres Level reduziert und man muss entweder die schlechteren Modifikatoren in Kauf nehmen oder Zeit aufwenden, um erneut zu zielen.
Um diese Fülle an Regeln besser kontrollieren zu können, finden sich am Ende des Buches zwei Seiten, auf denen die wichtigsten Regeln zusammengefasst werden. Zusätzlich helfen der vorhandene Index, sowie im Text verteilte QR-Codes, die auf nützliche Seiten verweisen.
Charaktererschaffung
Jeder Charakter verfügt über acht Attribute, wie Stärke, Gesundheit oder Intelligenz. Diese besitzen jedoch keinen festen Wert, sondern eine Anzahl an W8, W10 und W12, die bei der Erstellung gekauft werden. Die Fertigkeiten, wie Klettern, Überleben oder Wissenschaft, sind in drei Kategorien eingeteilt, die Punkte zum Verteilen zur Verfügung stellen. Anschließend wird für jede Fertigkeit, die erhöht wurde, ein W10 gewürfelt und das Ergebnis als Dezimalzahl angerechnet.
Daraufhin werden verschiedene passive Werte, wie Lebenspunkte oder Bewegungsgeschwindigkeit, ausgerechnet. Eigenschaften, wie etwa das Aussehen oder die Denkweise des Charakters, beeinflussen verschiedene der vorangegangenen Werte. Zuletzt wird der Charakter zum einen in die Foundation eingeführt, wobei seine Ausrüstung und Security Level festgelegt werden, zum anderen wird sein Hintergrund ausgestaltet. Insgesamt beinhaltet die Charaktererschaffung vor allem das Zuweisen von Werten und das Eintragen der verschiedenen Modifikatoren, sodass sie nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen sollte.
Der Charakterbogen wirkt auf den ersten Blick unübersichtlich, wird jedoch durch die einzelnen Schritte während der Erschaffung verständlich gemacht.
Am Ende jeder Sitzung erhält man Erfahrungspunkte, und kann Fertigkeiten erhöhen – teilweise sogar schon während des Spielens. Die Menge an Erfahrungspunkten richtet sich nach der Länge des gespielten Szenarios. Wenige pro Sitzung bei einer langen Kampagne und viele bei einem One-Shot. Es existieren weder Klassen noch Stufen und momentan ist es nur möglich, einen Menschen zu spielen und nicht etwa ein SCP.
Erscheinungsbild
Das Cover zeigt vier Personen, die vor dem Eingang zu Anlage 093, die im Buch beschrieben wird, stehen. Es handelt sich dabei um Mitarbeiter:innen der Foundation. Die Atmosphäre wirkt düster und angespannt, was durch die Größe des Raumes, in dem sich die Personen befinden, noch verstärkt wird.
Die im Buch verwendete Schrift ist angenehm, wobei manche kleineren Abschnitte wie mit einer Schreibmaschine geschrieben wirken, was schwieriger zu lesen ist. Der Text wird immer wieder von Tabellen, Unterüberschriften, Kästchen und stimmungsvollen Bildern unterbrochen. Teilweise wirkt er jedoch überladen. Ein Index, sowie die Aufteilung in Security Level vereinfachen die Navigation. Die Tatsache, dass das PDF die Möglichkeit bietet, jede Seitenzahl, die im Text erwähnt wird, anzuklicken, um zu ihr zu gelangen, ist ebenfalls sehr praktisch.
Fazit
SCP – The Tabletop RPG behandelt ein eher ungewöhnliches, aber interessantes Thema. Durch das kollaborative Schreiben des Projektes der SCP Foundation sind sehr viele Informationen zu Hintergründen und den verschiedensten SCPs vorhanden, die alle für das eigene Rollenspiel verwendet werden können. Wenn man das nicht möchte, kann man sich die Foundation nach den eigenen Vorstellungen erstellen.
Insgesamt ist es ein solides, aber regellastiges System, das manchmal etwas zu viel will und deshalb unnötig kompliziert wirkt. Ob dieser Eindruck bleibt oder ob er sich legt, wird der Spieltest zeigen.
Was hilft, sind in jedem Fall der Index und kleine Boxen, die wie interne Memos mit Kommentaren von Mitarbeiter:innen gestaltet sind. Auch QR-Codes, die auf hilfreiche Seiten verweisen, und ein ganzes Kapitel, das beispielhaft eine Sitzung zeigt, in der die wichtigsten Regeln behandelt werden, sind hier positiv zu nennen. Dennoch bleibt die Frage, ob das System sich für Neulinge eignet. Die Lektüre des Regelwerkes vermittelt zumindest den Eindruck, dass erfahrene Rollenspieler:innen besser in diesem System aufgehoben sind.
Für Rollenspieler:innen, die Fans des SCP-Universums sind, lohnt sich dieses Regelwerk. Und wer sich noch nicht mit der Thematik beschäftigt hat, aber Mystery, Horror und Übernatürlichem nicht abgeneigt ist, sollte dem auf jeden Fall eine Chance geben. Währenddessen arbeitet die Foundation im Geheimen weiter und sorgt so für die Sicherheit der Welt. Dabei kann sie eines immer gebrauchen: neue Mitarbeiter:innen.
Dieser Ersteindruck basiert auf dem Lesen des Regelwerkes als PDF. Ein Spieltest wird folgen.
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Creator Reply: |
(mit Google Translate) Sehr gut gemachte Rezension! Dankeschön! Ich arbeite mit einem Übersetzer zusammen und wir planen, das Buch in Zukunft auf Deutsch zu veröffentlichen. Wir haben auch einen deutschen Kanal auf unserem Discord. https://discord.gg/9KjeBsn6Sg |
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https://www.teilzeithelden.de/2021/05/25/rezension-tricube-tales-ein-rollenspiel-nicht-nur-fuer-kinder/
Tricube Tales verspricht die Quadratur des Kreises: Ein generisches, aber einfaches System für alle Settings, klar verständlich, robust im Kern und mit Möglichkeit zur Anpassung, um unterschiedliche Besonderheiten von Settings mit Magie, Cyberware, Superkräften und vielem mehr abzubilden – und von Fünfjährigen zu verstehen! Kann das funktionieren?
Auch wenn Richard Woolcock das System ursprünglich für das gemeinsame Spiel mit seinem Sohn geschrieben hat, soll es ausdrücklich ebenso für Erwachsene geeignet sein, und darüber hinaus unterschiedlichste, auf einer Seite beschriebene „Micro-Settings“ abbilden, von denen der Autor schon ein Dutzend veröffentlicht hat.
Als Liebhaber von kleinen Systemen (wie Brave Bunnies) musste ich mir Tricube Tales einfach genauer anschauen. Dabei war die Qual der Wahl zunächst: welche Ausgabe? DriveThruRPG bietet neben den üblichen Hochkant-Formaten auch ein „Phone PDF Format“ an, in dem Tricube Tales und mehr verfügbar sind. Ich habe noch keine Erfahrung mit diesem Format, finde es aber spannend und habe mich dafür entschieden.
Die Spielwelt
Tricube Tales hat als generisches System keine eigene Spielwelt. Die Charakterbeispiele umfassen die Genres Fantasy, Western, Cyberpunk, Superhelden und Science-Fiction. Darüber hinaus gibt es im Anhang Settingregeln für praktisch alle üblichen Rollenspielthemen: von Cyber-Erweiterungen, Magie und Nicht-menschliche Rassen über Furchtregeln bis zu Behandlung von Schlachten und Reittieren.
Die Regeln
Cowboys brauchen Pferde!
Jede Probe basiert auf einem einfachen W6-Poolsystem. Je nachdem, ob die Figur für die aktuelle Aufgabe die passende Eigenschaft hat, würfelt man mit 3W6 gegen eine festgelegte Schwelle von leicht (4) bis schwierig (6). Passt die Eigenschaft nicht zur Aktion, aber zu Konzept oder Besonderheit, bekommt man stattdessen 2W6, passt beides nicht erhält man nur 1W6. Ist der Wurf höher oder gleich der Schwierigkeit, gilt die Probe als geschafft.
Mit „Perks“ (eine Besonderheit wie „stark wie ein Bär“ oder „magisches Schwert“) kann man gegen Ausgabe von Karmapunkten die Schwierigkeit eines Wurfes senken, mit „Quirks“ (eine Marotte wie „Arroganz“ oder Nachteile wie „einarmig“ oder „verflucht“) erhöhen, um dafür Karma zu erhalten.
Lebenspunkte (von SC und NSC) werden mit Resolve-Tokens dargestellt. Wer kein Resolve mehr hat, bekommt eine zur Erzählung passende „Affliction“ oder scheidet aus der Szene aus (NSC).
Kämpfe werden als einfache Proben abgehandelt, die Gegner werden mit „Effort“-Tokens dargestellt. Jeder Erfolg entfernt einen Token. Sind alle Tokens weg, gelten der oder die Gegner als überwunden.
Die SL würfelt nicht, sondern legt ausschließlich Schwierigkeiten für die Proben fest oder – im Falle von Gegnern oder längeren Aufgaben – die Anzahl der zu überwindenden Tokens.
Charaktererschaffung
Ein Beispielcharakter
Ein Charakter besteht aus Namen, Archetyp und jeweils einer Besonderheit (Perk) und einer Marotte (Quirk). Für den Archetyp sucht man sich zuerst ein passendes Wort, welches das Charakterkonzept beschreibt – „Weltraumschmuggler“ wäre so eines. Danach sucht man sich eine von drei vorgegebenen Eigenschaften aus: „agile“ (agil), „brawny“ (stark) und „crafty“ (clever) und ergänzt damit das Konzept. Beides zusammen bildet den Archetyp.
Dazu noch eine Besonderheit – das kann etwas sein, was der SC neben seinem Konzept gut kann, eine magische Fähigkeit oder Berufung oder ein besonderer Gegenstand – und eine Marotte, die einen in manchen Situationen behindern oder ablenken kann.
Beispiel: „Han Duo – cleverer Weltraumschmuggler – unterschätztes Schiff – loses Mundwerk“ ist ein fertiger Charakter, der sich mit 3W6 aus einer Zollkontrolle herauswinden könnte (passende Eigenschaft und Konzept) aber nur noch 2W6 erhält beim Umgang mit einer adeligen Passagierin (passende Eigenschaft aber Standesunterschied) und 1W6, wenn der:die Spieler:in beschließt, dass er sich aufgrund seines losen Mundwerks eine spöttische Bemerkung nicht verkneifen kann.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Tricube Tales macht es für Spielleiter:innen aus regelseitiger Sicht sehr einfach: Wie bei PbtA-Ablegern würfelt man nicht, sondern legt nur die Schwierigkeit für Proben fest und verwaltet bei Kämpfen ein paar Tokens.
Die eigentliche Herausforderung ist die Funktion eines narrativen Schiedsrichters, in welcher man die Auslegung des sehr grobkörnigen Systems in Hinblick auf die Spielwelt steuert.
So ist zwar einerseits sehr klar geregelt, dass man 3 Würfel erhält, wenn der Archetyp (Konzept und Eigenschaft) auf die Aktion passt. Es kann aber sein, dass bestimmte Umstände einen Würfelabzug rechtfertigen. Die Abbildung bestimmter konkreter Spieler:innenideen in das Regelkonstrukt erfordert ein ähnliches Abstraktionsvermögen wie bei Fate-Aspekten, was für klassisch geprägte Spielleiter:innen ungewohnt sein kann.
Das Regelwerk ist einerseits gut gegliedert und man findet sich zwischen den Kapiteln für Charakterbau, Spiel- und Settingregeln schnell zurecht. Die wenigen Detailregeln (wann bekomme ich wie viele Würfel, was kann ich mit Karma machen) sind aber etwas in den Fließtexten an unterschiedlichen Stellen versteckt. Hier wäre eine kurze Übersicht der Regeln am Ende hilfreich.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Die Spieler:innen haben die Regeln schnell verstanden und die Charaktere waren auch schnell erstellt. Das Zeitaufwändigste waren die Überlegungen zu unserem eigenen Setting, welches nur in groben Zügen beschrieben war. Der hohe Abstraktionsgrad von Tricube Tales machte es möglich, dass jedes Charakterkonzept problemlos umsetzbar war.
Für ein paar kurze, schnelle Abenteuer in nicht zu ausdifferenzierten Welten konnten sich alle Spieler:innen vorstellen, Tricube Tales zu nutzen. Für längere Kampagnen hat es ihnen aber zu wenig systemseitige Abbildung der Welt zu bieten.
Spielbericht
Da Tricube Tales keine Spielwelt mitbringt, haben wir für die Testrunde auf unsere zuvor gemeinsam erschaffene Welt Steampunk-Welt Aeros zurückgegriffen.
Die drei Spieler:innen haben sich darauf geeinigt, dass sie die Besatzung eines fliegenden Schmugglerschiffs namens „Barracuda“ verkörpern. Sie haben ihre letzten Groschen für das sehr gebrauchte (gerade eben noch flugfähige) Schiff zusammengekratzt und sind darauf aus, durch den in Zusammenarbeit mit den K-Aliens neu geschaffenen „Bermuda-Korridor“ in das „Große Dahinter“ zu fliegen, um von dort mit wertvoller Fracht zurückzukehren.
Die Besatzung besteht aus:
James Cook, einem cleveren (crafty) Mechatroniker (Besonderheit: McGuyver, Marotte: arrogant)
Hugo Nimber, dem agilen (agile) Navigator (schnelle Reflexe, verdammt stur)
Logan McDouggan, einem bulligen (brawny) Koch (kann alles zerlegen, überaus stolz auf seine „Kunst“)
Vor dem Flug muss ein Auftraggeber an Land gezogen werden und so wird eine der nächsten Nadeln (Türme, die über die Wolken ragen mit Anlegestellen für die Flugboote) – die Septa – angeflogen. Beim Anflug wird das Schiff überprüft und Hugo schafft es (Probe), den Lotsen mit der gefälschten Reservierung für die Septa zu überzeugen.Das Schiff legt neben einer schicken Yacht an – hier schafft es James, die Barracuda in einem beeindruckenden Manöver herumzureißen und gekonnt einzuparken (zwei Erfolge) und sichert sich damit die Aufmerksamkeit und Applaus von den beiden soeben aussteigenden Damen, welche die Gruppe aber links liegen lässt: Man will sich schließlich umschauen.
In der Arbeiterbar Porters‘, so heißt es, würde ein gewisser, berüchtigter Jack Sketcher absteigen, Schmuggler und Hehler, der gern andere Leute die Drecksarbeit machen lässt. Die Gruppe schafft es, in der Menge und vor Jacks wichtigem Pokerspiel (zwei SC schaffen Probe gegen 5 gemeinsam) auf sich aufmerksam zu machen und bekommen später tatsächlich einen lukrativen Auftrag: Ein gewisser Herr Montesquieu ist an eine Karte mit der Absturzstelle eines K-Schiffes im Großen Dahinter gekommen. Die SC sollen den Antrieb des Schiffes bergen und ihm bringen. Als die Gruppe sich darauf einlässt, wird ihnen ein Wachroboter zugeteilt, der darauf aufpasst, dass der geborgene Antrieb auch wirklich zurückkommt.
Seitenfüllende Illustrationen trennen die Kapitel
Der Flug durch den Korridor verläuft zunächst ereignislos, bis auf der Hälfte eine Wolke sich nähernder K-Schiff in der Ferne zu sehen sind. Die Gruppe besetzt die Stationen an Bord: Maschinenraum, Tesla-Kanonen und Ruder und macht gibt Dampf auf die Maschinen, um die ankommende Flotte zu durchbrechen. Der Vorgang wurde mit einer Probe von jedem SC abgehandelt gegen 5 Tokens. Durch vier Erfolge blieb ein Token übrig und die Gruppe konnte sich aussuchen, ob das Schiff einen Schaden nimmt oder sie den Schaden auf sich lenken – sie entschieden sich für Letzteres.
Mit gezielten Schüssen bahnt James der Barracuda einen Weg durch die Flotte, aber ein paar Kugelblitz-Schüsse der Gegner gehen durch und drohen, die Kondensatoren zu überlasten! Jeder springt an die Leitungen und reißt die entscheidenden Kabel und Leitungen raus, um eine Überlastung zu verhindern, wird kurz von den Stromstößen nach hinten geschleudert (jeder SC erleidet Schaden und verliert einen Resolve-Token) – aber die Flotte ist durchbrochen und die Barracuda wird gezielt aus dem Korridor gesteuert, ins Große Dahinter…
Erscheinungsbild
Das PDF funktioniert auf dem Smartphone-Bildschirm sehr gut. Die Schriftart ist angenehm und ausreichend groß für den kleineren Bildschirm. Wenige Abschnitte gehen über eine Seite hinaus, meist folgt auf der nächsten Seite gleich eine neue Überschrift. Dadurch entstandene Leerräume wurden mit ansprechenden und thematisch zum jeweiligen Inhalt passenden Illustrationen im Comicstil gefüllt. Der Pergament-Hintergrund macht das Lesen auf hellen Smartphone-Bildschirmen zusätzlich angenehmer.
Bonus/Downloadcontent
Die erwähnten Mikrosettings werden von Zadmar Games ebenfalls über DriveThruRPG angeboten.
Es gibt auch Zusatzregeln für das Solospiel und zum Star Wars-Tag am 5. Mai erschien das kostenlose Mikrosetting Interstellar Laser Knights.
Mir hat diese deutsche Regelübersicht eines Bekannten beim Leiten sehr geholfen.
Fazit
Tricube Tales ist schnell gelesen, schnell verstanden und schnell gespielt. Die knappen Regeln richten sich an sehr konkrete Zielgruppen und Situationen (Spiel mit Kindern, Anfängern, improvisierte Runden auf Cons oder ähnliche), in denen man schnell loslegen und wenig Zeit für Regelerläuterungen aufbringen möchte. Diesen Zweck erfüllt es mit Bravour. Dadurch, dass mit greifbaren und abzählbaren Tokens gearbeitet wird und die Charakterfähigkeit sich nur über ein bis drei Würfel erstreckt, muss nicht gerechnet werden. Es ist daher für jede Person jeden Alters geeignet, die Lust auf das Spiel hat und einen W6 lesen kann.
Die abstrakte Natur der Regeln erlaubt allerdings keinerlei Weltsimulation und die Charaktere unterscheiden sich nur narrativ. Wer hier mehr Abbildung der Regeln braucht, wird eher enttäuscht werden. Alle anderen sollten zumindest einen Blick in die sehr günstige Smartphone-Version werfen – das Leseerlebnis allein ist es meiner Ansicht nach schon wert
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