https://www.teilzeithelden.de/2020/02/27/rezension-vampire-v5-camarilla-schoene-neue-welt-der-dunkelheit/
Die Strippenzieher kainitischer und sterblicher Politik. Der unsterbliche Hof der Nacht. Ewiger Garant für Sicherheit und Stabilität. So oder so ähnlich würde sich die Camarilla wahrscheinlich selbst beschreiben. Aber wie steht es wirklich um die größte Sekte der Vampirgesellschaft in der Gegenwart?
Die fünfte Edition von Vampire: The Masquerade ist nun schon seit einiger Zeit erschienen, aber es hat bis zum Ende des letzten Jahres gedauert, bis die gedruckten Versionen der Ergänzungsbücher Camarilla und Anarch verfügbar waren. Zurückgezogene Veröffentlichungen, Kontroversen um einzelne Kapitel des Camarilla-Bandes, unglückliche Kommunikation, ein Austausch des kreativen Teils des Verlags, Vertriebswechsel und andere Skandale haben die Reihe erschüttert und für erhebliche Verzögerungen gesorgt. Die V5 schien unter keinem guten Stern zu stehen.
Aber 2020 sieht es schon wieder anders aus. Die beiden Ergänzungsbücher sind erschienen, mit Fall of London, Chicago by Night und Cult of the Bloodgods sind drei weitere Bände angekündigt, und das Computerrollenspiel Bloodlines 2 soll noch dieses Jahr erscheinen. Trotz aller Kontroversen und Kritik – ob berechtigt oder nicht – scheint es mit der Marke Vampire Grund genug, sich noch einmal inhaltlich mit der neuen Edition auseinander zu setzen.
Inhalt
Nach dem Grundregelwerk ist Camarilla – zusammen mit Anarch – die erste Veröffentlichung für die fünfte Edition von Vampire: The Masquerade und bietet einen Einblick in die weitreichenden Änderungen der Hintergrundwelt seit dem Anfang der 2000er. Inhaltlich schließt Camarilla nicht nahtlos an die vorherige 20-Jahre-Jubiläumsedition (kurz: V20) an, sondern setzt starke eigene Akzente. Die inhaltliche Verbindung von V20 und V5 ist am ehesten in Becketts Tagebuch des Jihad zu finden, in dem einige der großen Änderungen im Kanon bereits angedeutet wurden. Genau wie dieses Buch ist auch Camarilla eine große Ansammlung von In-time-Texten, die nicht gerade von den zuverlässigsten oder objektivsten Erzählern widergegeben werden. Das ganze Buch ist damit eine Art Puzzle, das sich erst Stück für Stück zusammensetzt und dem Leser so die Sicht der Camarilla auf sich selbst aus verschiedenen Perspektiven offenbart. Als klassisches Nachschlagewerk ist der Band nur eingeschränkt zu gebrauchen, aber als Transporteur von Stimmung und Atmosphäre macht er einen hervorragenden Job.
Ein Wort der Warnung: In der Folge werden zentrale Punkte des neuen Hintergrunds besprochen. Wer diese erst im Spiel erleben will, der sollte am besten direkt zum Punkt „Erscheinungsbild“ springen. Alle anderen können sich auf einen wilden Ritt durch den neuen Metaplot einstellen.
Eine neue Zeit des Feuers
Um einen Schnitt zwischen den Editionen zu setzen, geht man am besten in die frühen 2000er. In diesen Jahren wird den Blutsaugern in der Welt der Dunkelheit offensichtlich, dass sich grundlegende Dinge geändert haben. 2004 penetrierte die NSA das Nosferatu-SchreckNET und hatte damit Zugriff auf alle Daten, die die Verborgenen dort gebunkert hatten. Zwar gelang es noch, das SchreckNET offline zu nehmen, aber der Schaden war angerichtet. Zum ersten Mal schienen sterbliche Behörden die Bedrohung zu erkennen und ernst zu nehmen. Im Verborgenen bildete sich eine transnationale Allianz aus Geheimdiensten, der Leopolds-Gesellschaft und den vorher randständigen Organisationen wie Project Twilight. Im Vergleich ließ diese Bedrohung die Jäger wie einen schwächlichen Schulhofschläger aussehen. Die Second Inquisition war geboren, auch wenn sie sich initial nicht groß bemerkbar machte.
Der wahre Paukenschlag kam dann im Jahr 2008. Paramilitärische Eingreiftruppen und fanatische Leopoldsbrüder stürmten das zentrale Gildenhaus von Clan Tremere in Wien, vernichteten den inneren Zirkel und ließen vom Herz eines der mächtigsten Clans der Camarilla nur eine rauchende Ruine zurück. Seitdem ist das Gebiet als Ort eines Terroranschlags abgesperrt, und niemand außer den Agenten der Second Inquisition hat Zutritt zu den Überresten des Hohen Gildenhauses. Die Pyramide war gebrochen.
Die Schockwellen dieser Entwicklung waren in der gesamten Camarilla zu spüren, und auch die selbstsichersten Ahnen merkten, dass sich hier eine Gefahr entwickelte, die man nicht ignorieren durfte und die sich nur unzureichend mit den klassischen Mitteln kainitischen Einflusses zurückdrängen ließ.
Die Welt war gefährlich geworden für die Kainskinder, aber die Zeit der Katastrophen war noch nicht vorbei. Der nächste Doppelschlag kam im Jahr 2012. Auf dem Konklave von Prag wollte die Camarilla die Reihen schließen und ein Zeichen der Stärke zeigen. Leider kam es anders. Mit einem sprichwörtlichen Knalleffekt töteten die Brujah den Abgesandten der Ventrue. Im folgenden Chaos verließen die Clans der Brujah und Gangrel offiziell die Camarilla und schlossen sich den Anarchen an. An die Stelle eines Aktes der Einigkeit trat also das Ende der Camarilla, wie man sie bis dahin kannte. Dass dieses Jahr auch das Ende der Domäne London und den Tod von hunderten Kainskindern dort sah, geriet dabei fast zur Nebensache.
Als wäre das alles nicht genug, begannen die Ältesten der Camarilla auch noch einen mysteriösen Ruf zu spüren. „The Beckoning“ rief die verbliebenen Ahnen aus ihren Domänen fort in den Nahen Osten. Dort toben die Gehenna-Kriege zwischen dem, was von Sabbat übriggeblieben ist, und den aus aller Welt herbeiströmenden Alten, die vom Ruf des Blutes gezogen werden. Ahnen, die sich dem Ruf widersetzen, neigen dazu, sich in ihren persönlichen Zuflüchten zu verbarrikadieren, und man hört nichts Gutes über ihren Geisteszustand. So oder so tat sich allerorten plötzlich ein riesiges Machtvakuum auf, und die alten Wege der Camarilla funktionierten nicht mehr.
Die Situation jetzt
Es ist eine Zeit des Umbruchs, eine Zeit, in der alte Allianzen gebrochen und neue Bünde geschmiedet werden. Uralte Feindschaften treten in den Hintergrund, während sich frische Konfliktlinien bilden. Die Welt der Vampire ist in hellem Aufruhr. Aber ganz so schnell gibt sich das Ancien Regime nicht geschlagen. Die Camarilla ist angeschlagen, aber sie ist noch lange nicht tot. Stattdessen hat sie beschlossen, sich weiter in den Schatten zurückzuziehen und den Sabbat, die Anarchen und freien Clans die Hauptlast der Angriffe der Second Inquisition tragen zu lassen. Domänen, die durch die Angriffe fallen, können hinterher immer noch wieder neu in Beschlag genommen werden. Wenn es sich dabei um ehemalige Sabbat-Festungen wie Mexiko City handelt, umso besser. Die Camarilla versteht sich nicht mehr als die rechtmäßige Vertretung aller Vampire, und sie besteht auch nicht mehr auf der Gültigkeit all ihrer Gesetze, Traditionen und Verordnungen. Allerdings sieht sie es auch nicht mehr als ihre Pflicht an, jenen zu helfen, die sich ihr nicht freiwillig anschließen. Diese neue Camarilla ist weniger eine kainitische UN als vielmehr eine Vampirvariante der Illuminaten. Sei für uns und wir helfen dir, sei gegen uns und du stehst allein.
Mit diesem Rückzug in die Schatten gehen auch drastische Einschränkungen für die Mitglieder der Camarilla einher. In Zeiten von Massenüberwachung, Wärmesensoren und Vorratsdatenspeicherung ist die Kommunikation zwischen den Domänen und sogar innerhalb der Domänen schwer geworden. Burnerphones, konspirative Treffen und Codes erleben eine Renaissance innerhalb einer belagerten Camarilla. Die Maskerade soll ein zweites Mal das Überleben der Kainskinder im Angesicht menschlicher Vernichtung garantieren.
Doch nicht nur nach außen wandelt sich die Camarilla. Auch im Inneren sind Dinge in Bewegung geraten. Mit dem Wegfall der Führungsschicht der Ahnen ist der Weg nach oben für ambitionierte Ancillae und Neugeborene plötzlich so frei wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Die erstarrten Strukturen sind mit einem Mal aufgebrochen und mit ihnen auch die Dogmen, die zu der Erstarrung geführt haben. Warum sollte man die Dünnblütigen nicht als Waffe gegen die Second Inquisition einsetzen? Müssen wir weiter Fehden mit Clans ausfechten, deren Ursprünge wir nicht einmal kennen? Den Assamiten geht es schlecht? Warum strecken wir nicht unsere Hand aus und laden die Banu Haquim ein, unserem exklusiven Club beizutreten? Es geht schließlich um das Überleben, da muss man manchmal die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen.
Für die Ahnen mag es eine furchtbare Zeit sein, aber für ambitionierte, junge Vampire ist es ein wahres Wildwest-Zeitalter, in dem mit hohen Einsätzen um noch höhere Gewinne gespielt wird. Auch wenn man jeden Tag von einer Einsatzgruppe brasilianischer Söldner geweckt und ins Sonnenlicht gezerrt werden kann. Aber was wäre der Gewinn schon wert, ohne das nötige bisschen Adrenalin, dass untoten Körpern lange vergessene Thrills bietet?
Was bedeutet das am Spieltisch?
Die neue Welt der Dunkelheit ist – besonders für Spieler, deren Chroniken in europäischen Städten spielen – wesentlich gefährlicher und unberechenbarer geworden. Aber auch für junge Spielercharaktere ist es möglich, sich in kurzer Zeit an die Spitze der sozialen Leiter zu kämpfen. Für Spielrunden, die den offenen Sandboxansatz bevorzugen, bietet diese Version von Vampire von Haus aus deutlich bessere Startbedingungen.
Der klar offenere Hintergrund lädt dazu ein, seine Spieler in das Zentrum großer Veränderungen zu stellen, ohne sich bewusst gegen einen ganzen Berg von Publikationen zu stellen. Auch Neugeborene können sich in der Politik der Unsterblichen plötzlich deutlich freier und mit mehr Auswirkungen bewegen.
Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass Gruppen, die eine traditionelle Chronik bevorzugen, oder Spieler, die selbst gerne einen alten und mächtigen Vampir darstellen möchten, von dieser Edition vollkommen im Stich gelassen werden. Weder bekommen sie das Handwerkszeug (Disziplinen jenseits der fünften Stufe, z.B.) noch erzählerische Handreichungen. Gruppen, die sich nach einer solchen Art Spiel sehen, sind bei der V20 eindeutig besser aufgehoben.
Insgesamt betont die V5 eher die paranoiden und geheimnistuerischen Aspekte des Vampirdaseins. Aus den Jägern sind in dieser Version eher Gejagte geworden. Die Second Inquisition ist den „Blankbodies“ auf der Spur, die Leopoldsgesellschaft erhebt sich aus ihrem Schattendasein, und die ehemaligen Patrone, Ahnen und Erzeuger sind nicht mehr da, um einen in Schwierigkeiten gekommenen Neugeborenen zu retten. Die Welt der Dunkelheit ist buchstäblich ein düsterer und gefährlicherer Ort für die Kinder Kains geworden.
Der Regelteil
Vernachlässigbar ist das beste Wort, um den Anteil neuer spielmechanischer Neuerungen in diesem Band zu beschreiben. Der Fokus liegt eindeutig auf dem Fluff und nicht der harten Mechanik. Dennoch lassen sich einige Neuerungen am Ende des Bandes finden. Diese Ergänzungen zum Grundregelwerk lassen sich in drei Kategorien einteilen. Loresheets, ein neuer Clan und Regeln für die Auseinandersetzungen zwischen Institutionen.
Die Loresheets sind Erweiterungen der klassischen Hintergründe, die ein Spieler bei der Charaktererschaffung kaufen oder im Laufe des Spiels erhalten kann. Nur statt „Ressourcen“, „Einfluss“ oder „Gefolgsleute“ gibt es hier quasi Wissen über bestimmte vampirische Hintergründe, zum Beispiel bei „Pure Ventrue Lineage“, oder Gefälligkeiten bei bedeutenden NSC, zum Beispiel „Victoria Ash“, zu erwerben. Das ist zwar eine nette Ergänzung, aber auch kein Quantensprung.
Anders wiederum sieht es bei dem neuen spielbaren Clan aus. Die „Banu Haquim“ werden in diesem Band zum ersten Mal vorgestellt. Dieser „neue“ Clan ist jener Teil der Assamiten, der sich in einem clansinternen religiösen Schisma von der Hauptlinie abgespalten hat und Zuflucht in der Camarilla sucht. Regeltechnisch beschränken sich die Neuerungen hier allerdings auf zwei Rituale, die ihre Clansdisziplin „Blood Sorcery“ erweitern und den Banu Haquim Zugang zu spezifischen Assassinen-Techniken geben. Die ehemalige Clansdisziplin „Quietus“ ist hingegen vollständig gestrichen, ebenso wie die spezifische Form der Assamiten-Hexerei „Dur-An-Ki“, welche durch das allgemeinere „Blood Sorcery“ mitsamt seinen Erweiterungen dieses Bandes ersetzt wurde. Für langjährige Fans der Assamiten ist das trotzdem sicherlich nicht zufriedenstellend, auch wenn mit „Celerity“ und „Obfuscation“ die anderen klassischen Disziplinen erhalten geblieben sind.
Die Verregelung von Auseinandersetzungen zwischen Institutionen schließlich wirkt wie ein halb durchdachter Nachsatz. Das auf einer Doppelseite erläuterte System ist sehr rudimentär und oberflächlich und wird sicherlich nur in wenigen Runden in dieser Form zum Einsatz kommen. Das haben andere Sandboxsystene wie beispielsweise Stars without Number in der Vergangenheit deutlich besser hinbekommen. Was sehr schade ist, da ein solches System in ausgereifter Form sicherlich eine Bereicherung für ein meta-lastiges Spiel wie Vampire wäre. In seiner jetzigen Form muss es aber leider als vertane Chance angesehen werden.
Erscheinungsbild
Optisch lehnt sich Camarilla sehr deutlich an das Grundregelwerk der fünften Edition an. Das bedeutet, dass man vom Layout und Stil einen deutlichen Bruch zu früheren Editionen vollzogen hat. Der neue künstlerische Stil mit seiner Mischung aus Fotos, Grafiken und Konzeptzeichnungen ist sicherlich einzigartig in der Spielreihe, aber auch nicht jedermanns Geschmack. Insgesamt wirkt Camarilla deutlich moderner als es noch die V20 tat, die stilistisch stark in der Tradition der 90er und frühen 2000er Jahre, der Hochzeit von Vampire, verhaftet war. Ob man das nun gut oder schlecht findet, muss jeder selbst entscheiden.
Ärgerlich ist hingegen, dass auch einige Layout-Macken des Grundregelwerks übernommen wurden. So wirken beispielsweise der häufige Wechsel zwischen, ein-, zwei- und dreispaltigen Textseiten, schwarzem und weißen Hintergrund, sowie der beständig wechselnde künstlerische Stil sehr unruhig und machen den Band zwar optisch abwechslungsreich, aber auch anstrengend zu lesen.
An Binde- und Druckqualität gibt es hingegen in der physischen Variante nichts zu bemängeln. Das Papier hat eine angenehme Haptik und Dicke, und auch die Bindung wirkt solide. Warum textlastige Bände immer noch in Hochglanz gedruckt werden, wird sich mir so schnell nicht erschließen. Die Spiegelungen halten sich aber im Rahmen und stören den insgesamt guten Gesamteindruck nicht. Auch der Preis ist mit 19.99 USD für das PDF oder 39,95 EUR für das gedruckte Buch im normalen Rahmen.
Fazit
Der Band wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der größten kainitischen Sekte in der Gegenwart. Durch eine Reihe von In-time-Texten aus verschiedenen Perspektiven bekommt der Leser einen Eindruck von den massiven Veränderungen, die die Camarilla seit Beginn des neuen Jahrtausends erschüttert haben. Die fünfte Edition von Vampire: The Masquerade setzt hier ihren radikalen Umbaukurs, der sich schon im Grundregelwerk abzeichnete, konsequent fort. Während der Sabbat immer mehr zu einem Kreuzzug gegen die Vorsintflutlichen im Nahen Osten zieht, ist den Kainskindern Europas und Nordamerikas mit der Second Inquisiton ein neuer Feind erwachsen, der die Grundfesten der Sekte erschüttert. Während die Ahnen verschwinden, transformiert sich die Camarilla immer deutlicher zu jenem schattenhaften Elitenclub, der sie in den Augen der Anarchen schon immer war.
Spieltechnisch liegt der Fokus deutlich auf jungen und ambitionierten Vampiren, die sich in diesen chaotischen Nächten einen Namen machen wollen und nicht mehr von der erdrückenden Macht des Status Quo niedergehalten werden. So stark der Fluffteil des Bandes geraten ist, so schwach ist der tatsächliche Regelteil bzw. der Nutzen des Bandes als konkrete Ressource am Spieltisch. Hier wurde eine Chance vertan, dem System mehr regeltechnische Tiefe zu verleihen. Insgesamt aber ist Camarilla – für das, was es sein will – ein gelungener Band, der die Besonderheiten der fünften Edition von Vampire: The Masquerade weiter schärft und herausarbeitet. Wem allerdings schon die Neuerungen des Grundregelwerks nicht gefallen haben, der wird auch von diesem Band nicht konvertiert werden können.
|