Auch wenn Shadowrun für mich den Einstieg ins Tischrollenspiel darstellte, ist es nicht gerade für seine Einsteigerfreundlichkeit bekannt. Schon die Grundregeln sind unglaublich sperrig, werden in dicken Bänden ausgeliefert und gefühlt jeden Monat um ein Quellenbuch erweitert. So blieb Shadowrun für mich ein System, das ich als Spieler aufgrund seiner einzigartigen Hintergrundwelt immer sehr gerne genoss, als Spielleiter aber nach Möglichkeit mied. Wer gleichzeitig einen Rigger, einen Magier und einen Decker in der Gruppe hat, muss umfangreiche, teils völlig unterschiedlich funktionierende Regelkomplexe parat haben, wenn er sich nicht permanent wie ein Pennäler fühlen möchte, der seine Hausaufgaben vergessen hat. Oder er vertraut seinen Spielern und verlässt sich darauf, dass die Jungs und Mädels schon nicht schummeln werden und wissen, was sie da tun. Dummerweise korrumpiert Macht und verführt die Spieler dazu, ihre Charaktere – bei Shadowrun auch Runner genannt – zu hochgefährlichen Spezialisten heranzuzüchten, die jede Schwäche im feindlichen Plan erkennen, ausnutzen und somit manches sorgfältig vorbereitete Szenario sprengen können.
Inhalt
Dass mit Shadowrun: Anarchy nun also eine alternative Regelversion erscheint, die den Spielern ohnehin mehr Einfluss auf den Verlauf der Story gibt, erscheint unter diesem Gesichtspunkt also gar nicht so abwegig. Und wie soll das gehen, fragt ihr euch? Nun, Shadowrun: Anarchy orientiert sich an den Regeln von Fate. Das kennt ihr nicht? Gut, dann sollte ich dazu ein paar Worte verlieren, denn seit einigen Jahren gibt es im Tischrollenspiel eine Alternative zum üblichen Spieler-und-Spielleiter-Schema.
Weniger Regeln – mehr Drama!
Das kennt ihr sicher alle: Der Spielleiter hat sich ein Abenteuer ausgedacht oder gekauft und abgesehen von einigen Improvisationen hat er oder sie eine Vorstellung vom Verlauf der Story und quasi gottgleiche Kräfte. Wenn er es will, erscheinen Sicherheitsleute, die trotz ihres lausigen Gehalts übermotiviert sind und euch den Tag vermiesen werden, oder Straßenschamanen, die euch den entscheidenden Hinweis aus dem Kaffeesatz lesen. Nebenbei wird versucht eine möglichst realistische Welt zu simulieren, in der viele – auch alltägliche – Handlungen durch bestimmte Regelmechanismen abgewickelt werden.
Bei Systemen wie Fate gibt es das so gut wie gar nicht. Erstens werden Regeln auf ein Minimum reduziert und nach Möglichkeit nicht durch Zahlen, sondern erzählerisch dargestellt. Ganz ohne Regeln geht es natürlich nicht, aber in Shadowrun: Anarchy sind die Grundregeln auf gut 20 Seiten begrenzt. Mit Ausrüstung und Charakterschaffung kommt man auf knapp 40 Seiten, während das Grundregelwerk von Shadowrun 5 dafür über 300 Seiten benötigt und zusätzlich noch fortlaufend durch weitere Spielhilfen um neue Regeln erweitert wird.
Zweitens sorgt der Spielleiter in diesem System nur für eine grobe Handlung, in deren Rahmen einige wenige unverzichtbare Elemente vorkommen werden. In welchem Zusammenhang diese stattfinden, ist aber völlig offen und sehr stark von den Aktionen der Spieler abhängig.
Der Reihe nach schildern diese nicht nur, was ihre Charaktere selber tun, sondern entscheiden auch, was als nächstes passiert. Ist die vom Spieler beschriebene Wendung der Ereignisse etwas schwerwiegender, dann muss er einen Plotpunkt ausgeben. Der Spielleiter fungiert in diesem Zusammenhang als Schiedsrichter, der entscheidet, wann dies geschieht. So kann ein Spieler noch ganz harmlos entscheiden, dass gerade seine Jugendliebe Peggy auftaucht, aber wenn sich im Plausch mit ihr herausstellt, dass sie inzwischen in dem Industriekomplex arbeitet, den die Runner infiltrieren wollen, dann kann der Spielleiter verfügen, dass dies einen Plotpunkt kostet. Jetzt kann der Runner sein Glück versuchen und Peggy bezirzen, damit sie ihm die Zugangscodes verrät, woraufhin der Spielleiter einen Wurf auf die entsprechende Fertigkeit verlangt. Für einen weiteren Plotpunkt könnte der Spieler jetzt noch einen sogenannten Glitch-Die zu seinem Würfelpool addieren, der den Ausgang der Probe massiv beeinflussen kann. Zeigt er eine 5 oder 6 hat der Spieler einen unglaublich guten Erfolg, bekommt die Zugangscodes, wird von Peggy noch zum Stelldichein geladen und gewinnt in ihr einen dauerhaften Kontakt für spätere Jobs. Bleibt der Würfel aber bei 1 liegen, dann kann Peggy die ganze Sache auf einmal zu heikel werden und sie kontaktiert sofort den Sicherheitschef des Komplexes, der daraufhin die Sicherheitskräfte verstärkt und ihnen auch noch eine Beschreibung des Runners zukommen lässt. Das soll als kleines Beispiel genügen, um die Dynamiken zu beschrieben, die so ein Spielsystem hervorbringen kann.
Weniger Regeln – mehr Dynamik!
Es gibt natürlich auch noch traditionelle Regeln. Die Designer haben hier ein eigenes Regelwerk ausgearbeitet, das sich irgendwo zwischen Fate und Shadowrun einpendelt, auch wenn das Pendel etwas mehr Richtung Fate ausschlägt. Erfahrene Spieler von Shadowrun sollten sich dennoch leicht zurechtfinden, denn Begriffe wie Karma und Edge sind erhalten geblieben. Auch wenn sich die Regeln stark vom Shadowrun-Grundregelwerk unterscheiden, sind Sinn und Zweck im Wesentlichen gleich geblieben. Die Höhe des Karmas spiegelt zum Beispiel immer noch den Fortschritt und die Entwicklung eines Charakters wieder, der Edge-Wert bestimmt, was der Spieler in riskanten oder vermeintlich ausweglosen Situationen in die Waagschale werfen kann.
Ich möchte hier nun nicht jede Regeländerung aufgreifen – dies würde zu weit ins Detail gehen – sondern in erster Linie meinen Eindruck wiedergeben, wie gelungen die Ausgangsideen des Regelwerks umgesetzt wurden. So soll Shadowrun: Anarchy ja nicht nur die Macht über den Verlauf der Erzählung umverteilen, sondern auch den ganzen Spielfluss dynamischer und flotter gestalten. Die Regeln sind entsprechend unkompliziert und unterstützen die flexible Spielführung. Zum Beispiel muss sich der Spielleiter vorher keine Gedanken darüber machen, ob die Runner das Magnetschloss knacken können, das ihnen den Weg in die Katakomben einer Kinder raubenden Troll-Sekte versperrt. Bei Shadowrun: Anarchy geht es einfach Wurf gegen Wurf. Der Spielleiter würfelt so viele Würfel, wie das Magnetschloss Stufen hat und aus den Erfolgen ergibt sich die Schwierigkeit. Der Spieler würfelt wie gewohnt Attribut plus Fertigkeitswert und versucht, mit seinen Erfolgen diesen Schwierigkeitswert zu knacken. Dadurch werden die Proben etwas leichter und zur Not können die Spieler so gut wie jedes Problem mit etwas Fantasie lösen, wenn Sie mit der Erzählung an der Reihe sind.
Weniger Regeln – mehr coole Typen!
Ein Spieler kann seinen Runner übrigens nur mit sechs Fertigkeiten ausstatten, die deswegen weise gewählt werden sollten. Zusätzlich gibt es maximal sechs sogenannte Shadow Amps für jeden Runner. Damit werden sowohl Cyberware als auch Zaubersprüche, Adeptenkräfte, Cyberdecks und Technomancerfähigkeiten bezeichnet.
Dies macht es leider notwendig, dass sich die Gruppe vorher gut abspricht, wer was für einen Runner ins Feld schicken will. So sind die Spieler also mehr oder weniger gezwungen, gut aufeinander abgestimmte Spezialisten zu erstellen. Das ist aber kein Bruch mit dem Rest der Regeln, sondern fügt sich ins Gesamtbild ein. Denn leider kam es mir beim Lesen des Kapitels zur Charaktererschaffung so vor, als würde mich das Regelwerk dazu ermutigen, ein wandelndes Klischee auf zwei Beinen zu entwerfen. Versteht mich bitte nicht falsch, denn unter den Archetypen findet sich zum Beispiel Ms. Myth, ein weibliches Troll Face, also eine Trollfrau, die vor allem mit ihren gesellschaftlichen und charismabasierten Fertigkeiten glänzt. Also ein durchaus untypischer Charakter, den ich so noch nie als Spielerfigur erlebt habe.
Aber enge ich mich nicht auch ein, wenn ich vorher festlege, dass mein Charakter innerhalb der Gruppe ein spezielles Feld abdeckt und eine bestimmte Rolle übernimmt, die dann eben auch gewisse Erwartungen erfüllen muss? Ich soll mir coole Sprüche für meinen Runner und Tags zu seiner Beschreibung ausdenken, damit ich auch bloß nicht vergesse, was er oder sie in dieser oder jener Situation sagen könnte. Gut, das ergibt ja auch Sinn, da jeder Spieler gleichzeitig Erzähler ist und es weniger darauf ankommt, wer den höchsten Wert in Heimlichkeit hat, sondern wer den besten Einfall hat, wie dieser Wert am besten eingesetzt werden kann.
Letztlich hängt es wahrscheinlich vom eigenen Geschmack und auch von den Mitspielern ab. Wer in einer Runde spielt, in der nicht jede kleine Eigenschaft schriftlich und gesiegelt vermerkt sein muss, kann sich hier also ein kleines bisschen austoben und seinem Runner nach Gutdünken einige Nebenfacetten verleihen, solange er ihm nicht plötzlich Vorteile andichtet, die ihn zum Hansdampf in allen Gassen machen. In Runden, in denen ansonsten streng nach Charakterbogen gespielt wird, dürfte es aber anfangs zu kleineren Diskussionen kommen, wenn sich einer der Mitspieler in diesem Punkt ein paar Freiheiten erlaubt.
Preis-/Leistungsverhältnis
Für ein paar Nuyen, äh, Dollar bekommt ihr hier ein wunderbar gestaltetes und übersichtliches PDF, das alles beinhaltet, was man benötigt, um direkt mit Shadowrun: Anarchy loszulegen. Alle Regeln, alle Gegenstände, alle Infos über die Sechste Welt. Oben drauf gibt es 30 Archetypen und gut 40 Abenteuerszenarien. Wärt ihr hart schuftende Konzernsklaven, dann könntet ihr hiermit, umgerechnet auf eure spärliche Freizeit, ein Produkt erwerben, das euch bis an euer Lebensende erfreuen wird, wenn ihr hin und wieder mal eine kleine Runde Shadowrun: Anarchy zocken wollt.
Erscheinungsbild
Klar, alleine bei 30 Archetypen gibt es hin und wieder eine Illustration, bei deren Anblick eine Augenbraue skeptisch nach oben zuckt. Aber im Großen und Ganzen ist Shadowrun: Anarchy hervorragend bebildert. Zwar werden viele Artworks aus anderen Büchern recycelt, aber mich persönlich stört so etwas nicht sonderlich.
Die Kapitel sind alle klar strukturiert und der Leser findet sich schnell zurecht, auch dank des übersichtlichen Inhaltsverzeichnisses. Das Buch ist also genauso unkompliziert gestaltet wie das beinhaltete Regelsystem.
Fazit
Shadowrun: Anarchy ist unkompliziert, schnell zu erlernen, erfordert nur wenig Vorbereitung und es ist sehr einsteigerfreundlich. Das wollten die Designer wahrscheinlich auch erreichen, weswegen ich hier nichts bemängeln kann. Ich kann mir sogar sehr gut vorstellen, dass ich mit so einem Regelwerk Leute für ein kurzes Tischrollenspiel begeistern kann, die damit ansonsten nichts am Hut haben. Denn im Prinzip sind sogar spontane Ausflüge in die Sechste Welt möglich, wenn sich jeder Spieler einfach einen Archetyp auswählt und sich der Spielleiter für eines der zahlreichen kurzen Szenarien entscheidet.
Leider offenbaren sich bei näherer Betrachtung einige Designfehler, was die Charakterentwicklung angeht. Ich persönlich finde es zum Beispiel etwas langweilig, mich bei der Charaktererschaffung auf eine bestimmte Aufgabe festzulegen, die mein Runner den Rest seines Daseins erfüllen muss. Dass man nur sechs Fertigkeiten wählen kann, macht dieses Dilemma nicht gerade erträglicher.
Aber wahrscheinlich soll man in Shadowrun: Anarchy auch nicht ewig lange Kampagnen bis zum Abwinken durchspielen. Dieses Regelwerk eignet sich perfekt für kurze Runs, die Laune machen und ein paar Nuyen für das nächste Soybier generieren. Und das reicht manchmal ja auch.
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