Die Regeln
The Strange hat beinahe alle Regeln mit Numenera (siehe unsere Rezension von Numenera) gemeinsam. Aber nochmals kurz rekapituliert: Die Basis-Engine basiert auf W20-Würfen. Schwierigkeitsgrade werden bei Proben mit 1-10 angegeben, die zu erwürfelnde Zahl ist hierbei der dreifache Schwierigkeitsgrad. Anwendbare Skills, besondere Assets und das Aufwenden von Effort stufen diese Schwierigkeit wieder herunter. Würfe sind auf die Spieler ausgerichtet, d.h. zum Beispiel gibt es an Stelle von Angriffswürfen der Monster Verteidigungswürfe der Spieler. Der Level eines Monsters ist grundsätzlich auch der Schwierigkeitsgrad es zu treffen. Schaden ist generell fix pro Waffentyp oder Power, d.h. es gibt keine Schadenswürfel sondern feste Werte. W20-Würfe von 17 oder höher und spezielle Fähigkeiten und Effort können aber den Schaden erhöhen.
Charaktererschaffung
Die Klasse eines Charakters heisst Type. In The Strange gibt es drei Basistypen: Vektor (Haudrauf), Paradox (verrückte, magie-artige Powers) und Spinner (irgendwo zwischen Dieb und Superdiplomat). Bei jedem Type darf man sich für diese Klasse spezifische Besonderheiten und Skills auswählen, und zwar auf jeder Stufe, die man erreicht. Weiter spezialisiert wird der Charakter über einen Descriptor wie z.B. Clever oder Tough. Eine Liste Descriptors ist vorgegeben und jeder bringt auch noch mal mechanische Details mit sich.
Jeder Charakter hat außerdem noch einen spielweltbezogenen Focus. Dieser sollte pro Party einmalig sein. Selbst wenn alle Charaktere Clever wären, sollte es nur einen geben, der den Focus Works the System hat. So wird eine gewisse Unterscheidung der Spielfiguren garantiert. War in Numenera dieser Focus noch fest, ändert er sich aber in The Strange. In jeder Spielwelt, die der Charakter betritt, hat er einen Focus, der sich in dieser Welt nicht mehr ändert. Beim erstmaligen Betreten dieser Welt legt der Spieler den neuen Focus, der für diese Welt gilt, fest. Hierbei gilt zusätzlich Folgendes:
[box]When you translate into a recursion and choose a new focus, you gain and can immediately use every tier power offered up to your character’s tier.[/box]
Einmal Bombe, immer Bombe
Diese kleine Randnotiz fand ich in den Anmerkungen auf Seite 52 versteckt. Sie beschreibt einen zentralen Zusammenhang für das Spiel: Eine höhere Stufe (tier) verleiht automatisch alle Boni, die eine bestimmte Anpassung an eine Spielwelt bringt. Oder andersherum: Man kommt in jeder Spielwelt genauso kompetent, aber anders ausgeprägt an.
Jemand, der den Entertains-Focus auf der Erde hatte, kann nach dem Übergang nach Ardeyn trotzdem sofort kompetent in der Kommunikation mit Verblichenen (Shepherds the Dead) sein. Das ist dann schon ein bisschen „strange“. Es dürfte für einige Runden sehr reizvoll sein, diese krassen Übergänge und eventuell multiplen Persönlichkeiten auszuspielen, für andere reines Gimmick.
Einen initialen Focus in der Startwelt wählt man auf jeden Fall während der Charaktererstellung. Descriptor, Type und Focus formulieren zusammen eine Kurzbeschreibung eines Charakters: „Charakter X ist ein knallharter Vektor, der mit zwei Waffen kämpft.“ oder „Charakter Y ist ein schlauer Paradox, der sich an jede Umgebung anpasst.“
Im Weiteren gilt es, auf die Startwerte der drei Attribute Intellect, Dexterity und Might Punkte zu verteilen. Man schreibt die Werte auf, die der Type fest vorgibt (z.B. Effort-Limit und Edge), bzw. man wählte besondere Fähigkeiten und Skills aus den Listen des Types aus. Einen Background sollte man auch noch wählen, die Startausrüstung – insbesondere die initialen Cipher – ausfüllen und man kann losspielen.
Die Charaktererschaffung dürfte vor allem aufgrund der Fülle an Optionen etwas Zeit in Anspruch nehmen. Da aber die meisten Optionen durch Entscheidungen der Art „Wähle zwei der folgenden Eigenschaften“ erschlagen werden können, dürfte sich dieser Prozess viel schneller abwickeln lassen als ein Punkt-Kauf-System.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Wie schon bei Numenera stößt die GM Intrusion erst mal sauer auf. Zu plump ist das gewählte Beispiel, dass man als SL einfach entscheidet, dass einem Spieler das Schwert aus der Hand fällt, und dafür XP hergibt. Und diese XP sind wichtig, gibt es XP ja ansonsten ja nur für besondere Entdeckungen. Für reguläres Spiel – Monsterplätten, Rätsel lösen, Hindernisse überwinden – gibt es keine XP! Das heißt, GM Intrusion ist wirklich zentral für das Spiel.
Sieht man sich den Mechanismus genauer an, und liest man die Beispiele im Spielleiterteil des Buches, dann merkt man schnell, dass eine GM Intrusion so etwas wie einen Compel des SL gegen einen Spieler oder die Gruppe darstellt. Unelegant wirkt dieser Eingriff nur dann, wenn der SL diesen nicht aus der Situation heraus ins Spiel einbringt. In Fate bezieht man sich dabei auf einen Aspekt, d.h. der Angriffspunkt der Komplikation ist schon definiert und irgendwie in der Szene drin – durch den Spielercharakter oder die Szene selbst. Diese Hilfestellung fehlt dem SL in The Strange, daher sollte man Intrusions auch mit Feingefühl anwenden. Ärgerlich sind sie für Spieler vor allem dann, wenn sie Einsen würfeln – dann gibt es nicht mal einen XP dafür. Aber genau dann lassen sich Patzer wenigstens noch gut rechtfertigen.
Ansonsten wirkt The Strange wie ein Spiel, das das Leiten an sich sehr erleichtert. Die Anzahl an Mechaniken ist klar überschaubar, das eigentliche Spiel tritt gegenüber der Regelverwaltung in den Vordergrund.
Episodisches Spiel
The Strange lädt zum episodischen Spiel ein. Wie bei einer Fernsehserie kann man hierbei jede, durchaus auch längere Episode, in einer anderen Rekursion ansiedeln, und so munter den Hintergrund und die Spielwelten variieren, während der alles verbindende Plot weitergetrieben wird. Vielleicht jagt man hierbei die Diener eines Planetenverschlingers (planetovore) durch verschiedene Rekursionen. TV-Serien wie Stargate SG-1 oder verschiedene Star Trek-Episoden können hierbei als Inspiration dienen. Neue Folge, neue Welt, neues Problem, eventuell aber immer die gleichen Schurken, die dahinter stecken. Für variantenreiche Kampagnen ist definitiv Potenzial vorhanden! Und wenn eine Rekursion den Spielern besonders im Gedächtnis geblieben ist, kann man ja auch gerne wieder dorthin zurückkehren.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Was mir am Cypher-System besonders gut gefällt, ist, dass alle Würfe von den Spielern ausgehen. Und es wird immer nur ein Wurf gebraucht! Ein Angriff auf ein Monster ist ein Wurf. Durch ein Monster angegriffen zu werden ist auch nur ein (Verteidigungs-)Wurf. Damit dürfen sowohl diejenigen zufrieden sein, die nur einen Wurf für eine Attacke wollen, als auch jene, die einen aktiven Verteidungswurf bevorzugen. Das gegenseitige Neutralisieren von Angriffs- und Verteidigungswürfen bleibt so auch aus. Ich finde das elegant.
Preis-/Leistungsverhältnis
Für 20 USD bekommt man das dicke Gesamtbuch für den Spielleiter, sowie ein weiteres Buch, das aber lediglich für die Spieler bestimmt ist. Bei dem Umfang, der hohen Qualität der Illustrierung und der Qualität des Gesamtprodukts, ist der Preis sicherlich gerechtfertigt, auch für eine digitale Ausgabe.
Fazit
Das Spielsystem selbst scheint mir ein guter Kompromiss zwischen Detaillierungsgrad und Überschaubarkeit. Im Gegensatz zu Numenera sind die Cypher, die der zugrundeliegenden Cypher-Engine ihren Namen geben, weniger zentral. Für Abwechslung im Spielfluss sorgen die verschiedenen Welten, in denen man seinen Charakter immer wieder neu erfinden kann. Auch für kreative SL ist hier Einiges an Spielraum geboten.
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