http://www.teilzeithelden.de/2014/09/17/rezension-demon-the-descent-daemonen-einmal-anders/
Im Jahr 2001 veröffentlichte White Wolf für die Rollenspielreihe World of Darkness (cWoD) das Rollenspiel Demon: The Fallen. Darin spielte man echte Dämonen, gefallene Engel und Anhänger von Luzifer, die kurz vor dem Ende der Welt aus ihrem Gefängnis im Abgrund entkommen konnten. Das war stimmungsvoll, zwang der Spielwelt aber einen einschänkenden Hintergrund auf und etablierte das judäo-christliche Weltbild als Tatsache. Das passte in die apokalyptischen Ereignisse der Time of Judgement (dem letzten Kampagnenband und offiziellem Ende der cWod) würde aber dem Geist der neuen World of Darkness (nWoD) widersprechen. Diese seit 2004 erscheinende Rollenspielreihe enthält sich definitiven Antworten, um Spielgruppen größtmögliche Freiheit zu lassen. So bricht Demon: The Descent mit dem Vorgänger und zeigt eine ganz eigene Interpretation von Dämonen, Hölle und Engeln, jenseits von religiöser Endzeit-Mystik.
Die Spielwelt
Bereits mit The God-Machine Chronicle brachte Onyx Path, die Nachfolgefirma von White Wolf, die nWoD auf den neuesten Stand. Darin wurde vor allem die „God-Machine“ eingeführt, ein neuer Super-Antagonist im Hintergrund. Diese ist keine Metapher, sondern eine tatsächliche, gewaltige Maschine, die sich in Falten der Realität verbirgt und die den Lauf der Welt steuert. Sie ist ein Gott-Ersatz, ein innovativer, kosmischer Horror, dessen unpersönliche, technische Beschaffenheit dabei hilft, religiösen Assoziationen vorzubeugen. Was die Gottmaschine will, weiß niemand und das wird auch in Demon: The Descent nicht geklärt. Sie kann dabei nicht direkt eingreifen, sondern manipuliert die Welt mit Hilfe von sterblichen Agenten und mächtiger Operatoren, die sich als Menschen tarnen: den Engeln. Doch die Gottmaschine ist fehlerhaft und so denken und handeln Engel manchmal gegen ihre Aufgabe, stellen Fragen … und fallen.
Erinnerung ans göttliche Ticken
„Was will die Gottmaschine? Woher kommt sie? Was ist ihre eigentliche Aufgabe? Die grausame Wahrheit lautet, dass ich in diesen Fragen nicht klüger bin als jeder Sterbliche. Der Unterschied ist: Ich habe ihr ewiges Ticken gehört, ihren donnernden Imperativ in meinem Verstand gespürt und war ihr Werkzeug mit blindem Gehorsam. Ich habe in ihrem Namen hunderte unschuldige gemordet, ohne jemals einen Grund dafür zu erhalten. Wenn ich schlafe, träume ich von Schreien zwischen endlosen, ölverschmierten Zahnrädern. Jetzt aber bin ich frei und stehe auf der anderen Seite. Ich sage, lassen wir sie brennen für das, was sie uns angetan hat! Nein, gewinnen können wir nicht. Aber solange ich existiere, werde ich es versuchen.“ – von D.W.
Die Charaktere: Luzifers moderne Erben
Die Spielercharaktere in Demon: The Descent verkörpern gefallene Engel, die sich nun Dämonen nennen. Sie behalten einen Rest ihrer einstigen Macht, verstecken sich in menschlichen Körpern und Identitäten und verbrüdern sich zu Agencies (Geheimgesellschaften der Dämonen) gegen den gemeinsamen Feind, die Gottmaschine. Sie ist noch da draußen und errichtet Infrastrukturen (geheime Operationszentren, die von Menschen nicht gesehen werden können). Das Problem ist, die Maschine will die Dämonen zurück! Ihre loyalen Engel machen Jagd auf die Gefallenen. Diese versuchen zu überleben und als langfristiges Ziel die Hölle zu errichten, ein Ort oder Zustand ganz frei von der Maschine. Doch wie die Hölle aussieht oder erreicht werden kann, darüber sind sie sich uneins – das Regelwerk gibt hier interessante Ideen, je nach Archetyp. So gehört jeder Dämon zu einer „Incarnation“ (Engel-Typ, also sein früheres Wesen) und einer Agenda (Ansichten über den Fall und aktuelle Motivation). Aus vier Incarnations und vier Agendas entstehen 16 verschiedene Dämonen-Typen, die Spielern eine erste Orientierung im Setting bieten, sich aber noch weiter miteinander kombinieren lassen. Zum Beispiel:
Messenger-Inquisitor: Früher diente der Dämon der Gottmaschine als Bote zwischen mehreren Infrastrukturen, bis er fiel, weil er zu viele Fragen stellte. Seitdem ist er besessen von Wissen und sammelt es, um der Maschine einen Schritt voraus zu sein. Er glaubt daran, dass die Hölle kein Ort ist, sondern ein geistiger Zustand und weitgehende Entschlüsselung der Gottmaschine, eine Art Erleuchtung für Dämonen.
Destroyer-Saboteur: Als Engel diente er, indem er überflüssige Infrastruktur abbaute und unbenötigte Agenten liquidierte. Dann aber begann er seine Taten zu hinterfragen und die Gottmaschine zu hassen. Seit dem Fall ist der Dämon damit beschäftigt, die Okkulte Matrix zu stören und die Gottmaschine zu beschädigen, wo er nur kann. Er weiß, dass es für ihn keine Erlösung gibt, doch in seinen Augen kann ein Reich der Hölle nur auf den Trümmern seiner einstigen Meisterin erbaut werden.
Guardian-Integrator: Im Dienst der Gottmaschine bewachte er ihre Infrastruktur, bis etwas mächtig schief lief. Er versagte. Bevor die Maschine ihn als Fehler abstempeln und vernichten konnte, trieb ihn seine Angst in den Fall. Aber er verachtet diese Existenz und wünscht sich zurück in die große Maschine. Sollen die anderen doch nach einer Hölle streben, er arbeitet insgeheim längst daran, wieder aufgenommen zu werden – zu seinen Bedingungen, versteht sich.
Die Regeln
Demon: The Descent benutzt das mit The God-Machine Chronicle überarbeitete Storyteller-System. Das befindet sich vollständig als Anhang im Buch, so dass man kein zusätzliches Regelwerk zum Spielen braucht. Das ist ein netter Service.
Natürlich haben Dämonen einen Haufen eigener Regeln. Die hauseigene Ressource der Dämonen ist Aether, eine Form okkulter Entropie, die von Infrastrukturen der Gottmaschine ausgeht und geerntet werden kann. Charaktere können Aether dazu benutzen, ihr Cover zu stärken. Dies ist der dämonische Ersatz für den Integritäts-/Moral-Wert und beschreibt, wie gut sich der Charakter vor der Gottmaschine verbirgt. Dämonen auf einer hohen Machtstufe, Primum genannt, können sogar mehrere Cover-Identitäten aufrechterhalten und zwischen ihnen hin-und-her wechseln. Als Nachteil leiden sie mit steigender Macht unter Glitches, auffälligen aber stilechten Veränderungen, bei denen ihre wahre Natur das Cover durchdringt. Im Spiel erhalten Charaktere zusätzlich spezielle Erfahrungspunkte, die nur dazu dienen, die Cover zu verbessern, während Vorzüge und Sonderfähigkeiten für alle Identitäten gelten.
Vielseitige Manipulation: Embeds und Exploits
Apropos Sonderfähigkeiten: Diese werden bei Demon: The Descent „Embeds“ und „Exploits“ genannt. Mit ihnen kann ein Charakter Macht über Dinge oder Personen erhalten, sich selbst verbergen oder im Kampf glänzen. Das System hält eine lange Liste von Embeds und Exploits bereit, die sehr unterschiedliche Effekte haben: vom Verbergen der Geräusche eines Kampfes (Hush), über die Manipulation einer binären Wahrscheinlichkeit (Left or Right), dem Hindern eines Charakters Geld auszugeben (Freeze Assets) bis zum Töten mehrerer Ziele mit nur einem Schuss (Merciless Gunman). Im Vergleich zu den Disziplinen der Vampire aus Vampire: The Requiem ist die Unübersichtlichkeit der Optionen ein Problem. Spieler und Spielleiter müssen sich lange einlesen, um passende Embeds und Exploits für Charaktere zu finden. Sie können auch ihre Sonderfähigkeiten selbst erschaffen – auch dafür gibt es eine Regel, was die Qual der Wahl aber noch schwerer macht. Mehr Einheitlichkeit und eine feinere Einteilung in Kategorien wäre besser gewesen.
Gut gelöst hingegen ist, dass die dramatischeren und mächtigeren Exploits gegenüber den subtileren Embeds immer mit dem Risiko einhergehen, das Cover zu beschädigen und die Engel auf sich aufmerksam zu machen.
Spielbarkeit aus Spielersicht
In Demon: The Descent sind die Charaktere zwar keine klassischen Dämonen aus dem Gefolge von Luzifer, doch das Spiel lässt echtes Dämonen-Feeling aufkommen. Die Embeds und Exploits geben Spielern zahllose Möglichkeiten, heimlich, verlogen und manipulativ in eine Szene einzugreifen und den Plot mitzugestalten. Dass die Charaktere keine Moral als Wert haben, sondern nur Cover, ist ebenso passend und befreit Dämonen von störendem Ballast des Storyteller-Systems. Andererseits ist es schon eine Herausforderung für Spielgruppen, Wesen darzustellen, die niemals Menschen waren und jenseits normaler Menschlichkeit existieren. Das hat auch mit den Tarnidentitäten zu tun, die zwar gepflegt werden müssen, aber oft kaum mehr als leere Hüllen aus Name, Konzept und Werten sind.
Besonders dämonisch wird es, wenn ein Charakter sein Cover abstreift und seine wahre Natur zeigt. Damit haben Charaktere Zugriff auf monströse, meist körperliche, Fähigkeiten (etwa Klingenhände, Rüstungsplatten, Säurespucke oder ein EMP-Feld). Kämpfe gegen Engel können dadurch zu effektlastigen Straßenschlachten voller Gewalt und Kollateralschäden werden – mit anschließender Flucht und verzweifelter Cover-Suche. In einem Spiel um Spionage, subtile Sabotage und Heimlichkeit ist das eine nette Abwechslung.
Für Spaß am Spieltisch dürften die Soul Pacts sorgen. Diese Pakte schließt ein Dämon mit einem Sterblichen und der Preis ist immer ein Teil von dessen Seele, durch die ein Cover verbessert werden kann. Doch willige Paktnehmer und der passende Preis müssen erst einmal aufgetrieben werden. So entstehen von selbst ganze Spielabende voller Charakterinteraktion, in denen die Gottmaschine im Hintergrund verschwindet.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Das Thema von Demon: The Descent, „Technognostische Spionage“ klingt furchtbar einengend. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Der Kampf der Dämonen gegen die Engel stellt nur ein wiederkehrendes Thema dar. Da die Gottmaschine auf viele verschiedene Weisen die Welt manipuliert, stehen Spielrunden alle möglichen Verschwörungstheorien zum Abenteuer-Bau zur Verfügung – Akte-X und The Secret World lassen grüßen. Das Setting ist besonders geeignet für Geschichten von Undercover-Arbeit, Spionage und Sabotage. Dass dabei Misstrauen, zweifelhafte Moral und Verrat auch unter den Charakteren Spielelemente sein können, ist durchaus im Sinn der Macher. Der übermächtige Feind – die Gottmaschine – hält Gruppen schon effektiv zusammen, egal was passiert. Horror entsteht dabei, in bester World of Darkness–Tradition, aus dem persönlichen Schicksal, den eigenen Taten und dem noch größeren Schrecken im Hintergrund. Auf Dauer kann das Spielen mit amoralischen und egoistischen Charakteren aber eintönig sein, wenn die Spieler es nicht schaffen, den Dämonen sympathische, menschliche Züge zu verleihen.
Da Engel ähnliche Exploits besitzen wie Dämonen, erhalten Spielleiter mit Demon: The Descent einen mächtigen Baukasten für übernatürliche Feinde, die auch in Cross-Over-Runden zur Anwendung kommen könnten. Interessant sind auch Cryptids, von der Maschine veränderte Tiere mit eigenen bizarren Fähigkeiten. Abgesehen davon liefert das Regelwerk eine konkrete Spielumgebung als ausgearbeitete Stadtbeschreibung von Seattle. Hier werden aber nicht nur Stadtviertel, Infrastrukturen und Plot-Ideen präsentiert, sondern auch die Möglichkeit von „splinter timelines“ in die World of Darkness eingeführt. Seattle existiert nämlich durch die Gottmaschine in mehreren parallelen Dimensionen, darunter historische Splitter der Jahre 1889, 1932, 1962 und 1999 – alle mit eigenen Beschreibungen und Charakteren. Wow! Dazu gibt es eine eigene spannende Mini-Kampagne „How an Angel dies“, die aber eher für erfahrene Gruppen gedacht ist.
Spielleiter, die die Ausführungen im Regelwerk streckenweise zu theoretisch finden und mit Zeitreisen in Seattle wenig anfangen können, sollten sich The God Machine Chronicle zulegen. Dort finden sich mehr Abenteuer-Ansätze und mehr Beispiele für Engel und Agenten der Gottmaschine.
Preis-/Leistungsverhältnis
Demon: The Descent ist mit 414 Seiten eines der dicksten Bücher der World of Darkness. Das liegt zum einen an den angehängten, überarbeiteten Grundregeln des Storyteller-Systems (immerhin ein Drittel des Buches). Zum anderen sind einige Abschnitte recht langatmig und mit Wiederholungen geschrieben. Hier hätte man etwas kürzen können. Trotzdem ist der Preis von umgerechnet 19 EUR für das Pdf die Sache wert, dank der Baukästen für Engel und dem großartigen Zeitreise-Seattle auch für Spielrunden ohne Dämonen.
Erscheinungsbild
Das schwere Regelwerk hätte etwas mehr Artwork vertragen können. Dafür ist das gezeigte aber von sehr hoher Qualität und Kästen und Anmerkungen lockern den Textfluss merklich auf. Besonders die Portraits der Beispielcharaktere sind deutlich besser gelungen, als in früheren White Wolf–Publikationen. Der düstere Ton wird dabei komplett durchgehalten und das schwarze Cover sieht edel im Rollenspielregal aus, passend zum Rest der neuen World of Darkness.
Die PDF-Version hat ausreichend Lesezeichen, um zwischen Abschnitten zu wechseln und eine solide Verschlagwortung mit Hyperlinks, um das Lesen auf dem Tablet zu erleichtern.
Erweiterungen
Seit dem Erscheinen des Regelwerkes brachte Onyx Path einige Erweiterungen für das Rollenspiel auf den Markt. Aber lohnen die sich überhaupt, wo doch das Grundregelwerk von Demon: The Descent schon so umfangreich ist?
Flowers of Hell: The Demon Players Guide ist eine regellastige Erweiterung mit einem Haufen neuer Embeds, Exploits und Gadgets auf 177 Seiten. Das ist besonders für Spielrunden gedacht, die möglichst viele Optionen beim Charakterbau mögen. Dazu finden sich in hier Klarstellungen zu den im Grundregelwerk untergegangenen, angeborenen Fähigkeiten der Dämonen (etwa perfektes Gedächtnis, undurchdringliches Pokerface und Verständnis aller Sprachen). Für eine längere Kampagne interessant dürften vor allem tiefere Einsichten in die Wirkungsweisen von Pakten und die Psychologie des Falls sein. Insgesamt ist Flowers of Hell recht ergiebig, aber kein Pflichtkauf.
Heirs to Hell erweitert Demon: The Descent um das Thema „Kinder“. Diese Halb-Dämonen werden auf 52 Seiten knapp und umfassend beschrieben, insbesondere, was sie für die Dämonen bedeuten. Sie benötigen kein Cover, sind den normalen Regeln für Integrität unterworfen, können aber die Infrastruktur der Gottmaschine sehen und Embeds erlernen. Dazu gibt es eine Charaktererschaffung für „demon-blooded“, womit sie zu einer interessanten, deutlich weniger mächtigen, alternativen Spielweise werden, die auch gut in Cross-Over-Runden passt. Die Erweiterung ist aber nur für Spielrunden Interessant, die dies auch nutzen wollen.
Fazit
Spieler von Vampire: Requiem bis Mage: The Awakening können aufatmen: Diese Dämonen kommen ohne definitive Antworten auf die Geheimnisse des Kosmos daher. Stattdessen ist Demon: The Descent ein interessantes Rollenspiel geworden, das bei 414 Seiten zwar viel Lesearbeit erfordert, aber höllischen Spaß machen kann.
Fans von Demon: The Fallen, die klassische Dämonen erwartet haben, werden mit Demon: The Descent enttäuscht werden. Obwohl das Setting Begriffe wie „Hölle“ und „Dämonen“ benutzt (und manchmal etwas strapaziert), hat es nichts mit Luzifers Fall zu tun. Auf die Existenz der Gottmaschine muss man sich als Spielrunde erst einmal einlassen. Auch ich war ich zu Beginn skeptisch, ob diese untypischen Dämonen in die nWoD passen würden. Meine Antwort ist: verdammt gut sogar. Demon: The Descent fördert ein Spiel in einer ganz eigenen Stimmung zwischen Angst, Unterdrückung und Rebellion und bereichert damit die neue World of Darkness um eine weitere düstere Facette. Mit fragwürdiger Moral und teilweise richtig teuflischen Fähigkeiten sind die gefallenen Engel der Gottmaschine eine gelungene und längst überfällige Neu-Interpretation des judäo-christlichen Mythos.
Anders als das etwas sperrige Mummy: The Curse ist das Setting nicht nur etwas für ambitionierte Charakterspieler, sondern auch für Freunde von Spionagethrillern, die bisher noch nie in die World of Darkness eingetaucht sind.
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