Originally posted at: http://www.teilzeithelden.de/2013/10/28/rezension-the-strix-chronicle-anthology/
Nach hektischer Produktivität in den 90ern und Anfang der 2000er war es in Sachen Fiction aus dem Hause White Wolf, von sporadischen Veröffentlichungen abgesehen, lange Zeit sehr ruhig geworden. Zwar hat sich das nun nicht grundlegend geändert. Die „neue“ federführende Firma Onyx Path Publishing (OPP) hat allerdings nach längerer Zeit der Ungewissheit mit einem Publikationsmodell auf der Basis von Kickstarter-Projekten, E-Books und Print-on-Demand wieder Tritt gefasst und einen ehrgeizigen Veröffentlichungsplan für die Zukunft vorgelegt. Darin haben Anthologien ihren Platz gefunden, die das Erscheinen besonderen Hintergrundmaterials der New World of Darkness begleiten.
Im November wird nun für Vampire: The Requiem (V:TR) Blood and Smoke: The Strix Chronicle erwartet. Die bisher als Regel– und Hintergrund-Sandbox ausgestaltete Requiem-Spielwelt steht damit an der Schwelle einer Art des „Re-Imagining“ in einem speziellen Setting. Im Zeitalter des E-Publishing sind Gedanken an ausverkaufte Auflagen und die erneute Aufarbeitung in neuen, als Ersatz gedachten Editionen im Grundsatz nicht zwingend; gleichwohl deutet sich an, dass das Buch der Spiellinie mit einer grundlegenden Überarbeitung und einem in kräftigeren Farben gemalten Kampagnenhintergrund den Weg in die Zukunft weist.
Strix Chronicle möchte neuere Genre-Facetten aufgreifen und das Vampirbild mehr am „sexy Vampir der aktuellen Populärkultur“ orientieren, so heißt es. Die deutlich gestiegene Stärke der vampirischen Kräfte weckt zwar Erinnerungen an die „fanged superheroes“ aus der Maskerade der 90er. Vom Ton her scheint es sich allerdings an True Blood und ähnlichen modernen Inkarnationen des Vampir-Themas zu orientieren.
Dem steht eine gespenstische Bedrohung aus der geheimnisumwobenen Vergangenheit der vampirischen Blutlinien gegenüber: die Strix, eulenartig-dämonische Wesenheiten. Um es mit Twin Peaks zu sagen: „Die Eulen sind nicht das, was sie scheinen!“ Körperlose Geister aus Rauch und Schatten bedrohen die Schattengesellschaft der Vampire und drohen, sie mit gestohlenen Körpern und allgegenwärtiger Paranoia von innen heraus zu zersetzen.
In der späteren Phase der V:TR–Publikationen taucht das Spiel tiefer ins Setting ein, stellt es markanter als Story dar und widmet dem Ungewöhnlichen und Phantastischen mehr Aufmerksamkeit. Bereits hier haben die Strix ihr gefiedertes Haupt erhoben. Die im antiken Rom angesiedelten Bände Requiem for Rome und Fall of the Camarilla weisen ihnen eine bedeutsame Rolle in der Geschichte der Vampire zu. Night Horrors: The wicked Dead schildert die Rückkehr der vampirischen Nemesis in der Gegenwart.
The Strix Chronicle Anthology bereitet mit 13 Kurzgeschichten von Autoren aus dem unmittelbaren Umfeld der OPP–Spielentwicklung das Erscheinen von Blood and Smoke: The Strix Chronicle (B&S) vor. Die Anthologie möchte der Welt, die die Grundlage von B&S sein wird, Leben einhauchen und V:TR im Schatten der Strix zeigen.
Die Stories
5 bis maximal 20 Seiten nehmen sich die Autoren, um entsprechend kurze, pointierte Handlungsfäden zu spinnen. Bei 9 der insgesamt 13 Storys handelt es sich um Erstveröffentlichungen; die übrigen 4 sind bereits in älteren Quellenbüchern erschienen.
Watching (Orrin Loria), die erste Geschichte des Bandes, handelt von existentieller Verunsicherung.
Wer nicht bereits einen Eindruck davon hat, worum es in der Anthologie geht, den wird sie wohl irritiert zurücklassen – der Grund für die Geschehnisse bleibt zunächst im Dunkeln.
Die folgende Story Notes from a Dead Girl von Chuck Wendig war ursprünglich über Lords Over the Damned: Ventrue verteilt. Sie erzählt, durchaus geschickt, in andeutungsreichen Notizen von Intrigen und Mysterien rund um die Rückkehr der Strix in der Gegenwart.
Playing House (Audrey Whitman) ist mit weiteren mysteriösen Ereignissen gefüllt; auch hier dürfte sich dem uneingeweihten Leser erst aus späteren Geschichten ihre Bedeutung erschließen.
Fading Away von Matthew McFarland, eine hübsche strix– und blutsaugerfreie Gruselgeschichte, stammt aus Mythologies. Meiner Ansicht nach hätte sie einen schönen Einstieg in die Anthologie gebildet, findet sich aber leider erst später im Buch.
In Breaking the Surface (Chuck Wendig, aus Fall of the Camarilla) erwacht ein uralter Vampir zwischen den Fronten der Bünde. Zwar werden die Strix erwähnt, im Mittelpunkt aber stehen interessante Einblicke in die konfusen Geisteswelten einer Kreatur, die lange Zeit in Starre verbracht hat.
Four Years, Old John (Greg Stolze) beleuchtet die Entstehung der Freundschaft zwischen zwei Hauptfiguren der Requiem–Romantrilogie, Prinz Maxwell und Solomon Birch, im Schatten der Eulen. Trotz enger Bezüge zu anderweitig veröffentlichtem Material gelingt es der Geschichte, gut zu unterhalten und mit Leichtigkeit für sich selbst zu stehen.
Lullay, Lullay (Joshua Alan Doetsch), ein weiterer Höhepunkt der Sammlung, zeigt interessante Charaktere in der bisher tiefgehendsten Auseinandersetzung mit den Strix. Das Beziehungsgeflecht in ihrem Zentrum verknüpft die Strix mit jenem persönlichen Horror, der nahe am Herzen des Spielsystems liegt.
Night, Winter, Death (Myranda Kalis, aus Ancient Mysteries) fängt das allgemeine Thema „altertümliche Geheimnisse“ aus zwei parallel geschalteten Erzählperspektiven stimmungsvoll ein. Meines Erachtens hätte auch sie sich als Heranführung im Anfangsbereich des Buches besser gemacht.
Marple (Wood Ingham) versetzt die im Mekhet–Clanbuch vorgestellte Frances Black in eine Art vampirische Kriminalgeschichte. Die knackige, clevere Story bindet zahlreiche V:TR–Facetten ein; wer die Bücher bis in die Gegenwart verfolgt hat, wird daran Spaß haben. Anderen allerdings dürften zahlreiche Fragezeichen aus den Ohren quellen.
Owl Sign (Joseph Carriker) bewegt sich demgegenüber eher in die Richtung einer Abenteuergeschichte. Unterhaltsam, aber leichtherzig schildert sie eine Auseinandersetzung in den Bayous des amerikanischen Südens.
In Noblesse Oblige von Benjamin Baugh treffen wir den schrägen, an Parodie grenzenden Count F… Dracula wieder, der eine gratis erhältliche, launige Aufarbeitung im Night Horrors Format erfahren hat. Im selben Ton wird dazu eine Vorgeschichte geschildert, die mir zwar unterhaltsam, aber inhaltsleer erscheint.
There are no Owls in Seattle von Travis Stout läßt sich kaum beschreiben, ohne die Pointe vorwegzunehmen – sagen wir, die Geschichte beschäftigt sich mit drastischen Auswirkungen der kaum greifbaren Bedrohung auf die vampirischen Sozialstrukturen. Sie zeigt sehr anschaulich, welchen Einfluss die Strix auf das Setting nehmen können.
Second Chance, die finale Story von Eddy Webb, harmoniert hervorragend mit ihrem Vorgänger. Sie nimmt sich des Hauptthemas noch einmal in einer verwickelten, wendungsreichen Geschichte an, in der Scheinen und Sein mehrfach auseinanderfallen.
Schreibstil
Der kryptische Stil, der WW–Fiction in Regelbüchern häufig kennzeichnet, prägt auch fast jede dieser Geschichten. Die für Kurzgeschichten typische, einleitungsfreie Komprimierung wird darin auf die Spitze getrieben und fordert dem Leser viel Konzentration ab.
Inhaltlich dringt das Buch Schritt für Schritt tiefer ins Strix–Thema ein. Über die Geschichten hinweg kann der Leser Brotkrumen zum Thema sammeln, die sich allmählich zu einem plastischen Gesamtbild zusammenfügen. Je nach Ausgangspunkt und Interessenlage mag sich das spannend oder auch frustrierend gestalten. Zwar scheinen die Storys in ihrer Abfolge teilweise aufeinander abgestimmt zu sein; erst einmal ist aber ein holpriger Einstieg zu überwinden, bevor das Buch an Fahrt gewinnt.
Die zahlreichen Querverweise in den obigen Beschreibungen deuten eine wichtige Gemeinsamkeit an, die den Zugang zusätzlich erschwert: fast alle Storys setzen zumindest solide Kenntnisse von V:TR voraus, die über allgemeine Grundlagen hinausgehen. Jene typischen, erklärenden Einschübe, in denen der Kontext umrissen wird, fehlen fast zur Gänze. Viele der Andeutungen, Bezüge, Figuren wird nur einzuordnen und zu würdigen wissen, wer die Spielwelt bereits gut kennt.
Preis-/Leistungsverhältnis
Grundlage dieser Rezension ist die PDF-Version des Buchs. Mit 4,99 USD für 154 Seiten liegt der Preis für das Ebook (immerhin in 3 Formaten) noch im üblichen Verhältnis zu den Preisen von mass-market paperbacks. Vor dem Hintergrund, dass es sich an ein spezielles Publikum richtet, erscheint er mir zwar nicht günstig, aber fair.
Strix Chronicle CoverErscheinungsbild
Das Titelbild mag mit den Covern vieler Quellenbücher qualitativ nicht mithalten könnten, transportiert aber die Stimmung, die das Buch einfangen will. Die einzelnen Storys werden von Schädelsymbolen und Titelbalken getrennt – das ist hübsch anzuschauen, für mich als Leser haben diese äußeren Faktoren jedoch keine nennenswerte Rolle gespielt.
Fazit
Während frühere White-Wolf–Romane zumeist auch den unbedarften Leser im Blick hatten, lässt die Strix Chronicle Anthology ihn konsequent zurück. Das Buch richtete sich an Fans, ohne Anstalten zu machen, den weniger vorgebildeten Leser mit ins Boot zu holen. Für einen erzählerisch-einführenden Ausflug in die Requiem–Welt bleiben der gelungene Roman A hunger like fire und seine Nachfolgebände erste Wahl. Wer aber dem Pfad von V:TR bis in die Gegenwart gefolgt ist, wird trotz (natürlich) schwankender Qualität der Geschichten in der Anthologie wahrscheinlich viel Ansprechendes finden. Das betrifft nicht nur ein Wiedersehen mit einigen aus anderem Zusammenhang bekannten Figuren.
Wo sich der Inhalt nach den Parametern einer Spielwelt richtet, sollte man zwar keinen hohen literarischen Anspruch suchen, dieses Stück gaming fiction im engeren Sinne nutzt jedoch seine Ausgangsposition, um tiefer in die Spielwelt einzudringen und sie verstärkt zu nutzen (nutzt um zu nutzen – vielleicht nochmal umschreiben, den Satz?). Den besseren Geschichten gelingt es, ein Requiem–Universum unter den Schwingen der Eulen mit einem klaren Bild der Atmosphäre und der durch sie entstehenden Dynamik fühlbar zu machen. Sie illustrieren eine Welt, die geheimnisvoller und bedrohlicher geworden ist. Die politischen Intrigen der Vampire spielen nicht (mehr) die alleinige Hauptrolle, können aber in Wechselwirkung mit dieser Gefahr unheilvolle Konsequenzen haben.
Das Buch setzt jenen Weg fort, den die stärker story-orientierten Bücher seit ca. 2007 eingeschlagen haben: auch mit den Strix bleibt das Geheimnisvoll-Rätselhafte im Fokus. Durch Betonung des Mysteriösen weicht die latente Sterilität des Baukastens intensiverer Stimmung.
Der melancholisch-bedächtige Anstrich etlicher früher V:TR–Bände scheint zudem in eine düsterere und brutalere Atmosphäre überzugehen. Der Druck der omnipräsenten, schwer greifbaren Gefahr erzeugt zwischen den Vampiren eine Atmosphäre, die von Paranoia und latenter Feindseligkeit gekennzeichnet ist. Damit wirkt ihre Schattenwelt nicht nur dynamischer; ich habe den Eindruck, als sei die Schwelle zur gewalttätigen Auseinandersetzung spürbar gesunken. Die alarmbereiten Vampire im Schatten der Strix blicken häufig wachsam über ihre Schultern und scheinen schnell bereit, drastische Maßnahmen zu ergreifen.
In der Grundtendenz zeigen die Stories ein Requiem–Universum, das nicht in seinen grundlegenden Facetten verändert ist, jedoch besonderen Drall und Richtung erhalten hat. An dieser Stelle bin ich auch ein klein wenig enttäuscht. Die Anthologie fokussiert das grundsätzlich Vorhandene, eine Weiterentwicklung der Spielwelt mit neuen Elementen lässt sich jedoch nicht erkennen. In der Sache zeigt sich wenig, was nicht schon von der Strix–Blaupause in The wicked Dead skizziert und vorweggenommen worden wäre.
Als vorab veröffentlichtes Begleitbuch zu Blood & Smoke bietet die Anthologie das entsprechende Kopfkino, um die Atmosphäre des neuen Regelbuches aufzunehmen und seinen Hintergrund in Aktion zu erleben. Die Figuren, Situationen und Handlungselemente der besseren Geschichten enthalten einiges an inspirierendem Material, dass den Weg an den Spieltisch finden könnte.
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