http://www.teilzeithelden.de/2013/08/17/rezension-numenera/
4658 Unterstützer auf Kickstarter können nicht irren. So viele kamen zusammen, als Monte Cook, der bekannte Autor von Dungeons & Dragons, Pathfinder und dem Planescape Multiversum, ein neues Rollenspiel vorstellte – sein erstes ganz eigenes mit neuem Regelsystem und einer innovativen futuristischen Welt. Der Rest ist Kickstarter-Geschichte. Numenera übertraf das angesetzte Ziel von 20.000 USD um das 26-fache, hielt eine Weile den Rekord im Bereich Rollenspiele und wurde nebenbei von einem einzelnen Buch zu einer ganzen Serie von Publikationen. Nun ist der erste und wichtigste Teil des Spiels fertig: das Grundregelwerk.
Erscheinungsbild
Numenera_CoverNumenera erscheint sowohl als Hardcover als auch als PDF auf stolzen 417 Seiten in Farbe. Es gibt kaum eine Seite, auf der nicht irgendwo eine Illustration, eine Skizze oder eine Charakterzeichnung zu finden wäre. Besonders lobenswert sind die Karten zur Weltbeschreibung sowie die Bilder zu fast allen vorgestellten Kreaturen. Trotzdem vermitteln die zahlreichen Illustrationen keine einheitliche Stimmung des Settings. Barbarenkrieger, Techno-Magier und blinde Dämonen mit Runenklingen wirken wie aus verschiedenen Systemen zusammengeklaubt und das Grundregelwerk ist damit vor allem eins: bunt.
Dank Farbcodierung der Kapitel, doppelten Spalten pro Seite und gefetteten Schlagwörtern lässt sich Numenera immerhin gut lesen. Ein breiter Rand liefert zusätzliche kurze Erklärungen und schlägt bei vielen Schlüsselbegriffen andere Seiten zur weiteren Lektüre vor – im PDF auch per direktem Link. Das ist bei dem Umfang des Rollenspiels auch nötig und wird durch einen soliden Index ergänzt.
Die Spielwelt: Fantasy mit modernem Anstrich
Numenera soll neue Wege im Bereich der Science-Fantasy beschreiten. Das Setting liegt nämlich eine Milliarde Jahre in der Zukunft (nein, das ist kein Tippfehler). Trotzdem ist das Rollenspiel ‚nur‘ auf der Ninth World angesiedelt, einer bizarren Version der Erde, deren Landmassen zurück zu einem Superkontinent gedriftet sind. Der Name der Welt kommt von den acht vorhergegangenen Hochzivilisationen, deren Überreste überall zu finden sind: Winzige Nanoroboter fegen als Materie verändernder Iron Wind über die Oberfläche, die noch immer sendende Datasphere entlädt sich in zufälligen Bildern und Informationen und im Orbit kreisen intelligente Satelliten und Raumstationen mit längst vergessenen Aufgaben. Die Menschheit lebt im Schatten all dieser Dinge, zurückentwickelt zu einer archaischen Gesellschaft, die die allgegenwärtige Hochtechnologie für Magie und Wunder hält.
Numenera ist Schauplatz des Computerspiels Torment: Tides of Numenera, das ebenfalls über Kickstarter finanziert wurde und gerade von InXile Entertainment entwickelt wird. Es gilt als Nachfolger von Planescape: Torment, eines der beliebtesten Computerrollenspiel-Klassiker. Erscheinungsdatum ist voraussichtlich Anfang 2015.
Numenera sieht fremdartiger aus, als das Setting eigentlich ist.
Numenera sieht fremdartiger aus, als das Setting eigentlich ist.
Die Ninth World sieht nur auf den ersten Blick fremd aus. Wer genau hinschaut, erkennt wohlvertraute Fantasy-Klischees von wilden Ziegenmenschen (Margr), über Werwölfe (Thuman) bis hin zu selbstgerechten Drachenreitern (Angulan Knights). Das Setting erweitert die Stereotypen um neue Aspekte, um sie interessanter zu machen. Monte Cook überlässt dabei jedoch viel der Fantasie des Spielleiters und baut in den Beschreibungen der Artefakten und Kreaturen gern ein „Vielleicht“ ein. Das gibt natürlich mehr Freiheiten beim Konstruieren einer Kampagne, lässt aber viele Fragen offen und den Hintergrund leicht schwammig wirken.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist auch die Verwendung von Aliens (Visitants) und Paralelldimensionen als Erklärungen. So sind die geisterartigen Abykos in Wahrheit transdimensionale Wesen, und die Festung der Order of Truth existiert verschoben in einer Nebendimension. Doch so absurd Numenera manchmal wirkt, so erfrischend ist es als Fantasy-Setting, das Orks und Dunkelelfen für Mutanten (Abhumans) und uralte Kriegsmaschinen eintauscht. Gruppen, die mal etwas anderes sehen wollen, finden in Numenera sicher genug Abwechslung.
Dafür sorgen auch die sechs Fraktionen, denen sich die Spielercharaktere anschließen können. Sie sind eigenständig und stimmig, hätten aber etwas mehr Beschreibung vertragen können. Auch fehlen hier auffallend die geistergläubigen Gaians, die Feinde der Order of Truth, die interessante Verbündete abgegeben hätten.
Order of Truth: Die altruistische Quasi-Religion der Aeon Priests, die Technologie verehrt.
The Convergence: Eine lose Sekte, die Artefakte zum persönlichen Machtgewinn einsetzt.
Angulan Knights: Ein selbstgerechter Orden von bewaffneten Richtern und Monsterjägern.
The Jagged Dream: Ein gefährlicher Kult, der die Menschheit durch Krieg voranbringen will.
The Redfleets: Schatzsucher und Händler auf hoher See, die Technik fürchten.
Sarracenians: Wissenschaftler, die Pflanzen, Gifte und Mutation verehren und studieren.
Die Beschreibungen der bekannten Welt sind dafür ausführlich gestaltet. Numenera spielt in Standfast, einem Landstrich, der in ein neues Mittelalter zurückgefallen ist, samt Bauernhöfen, Analphabetismus, feudalem Klassendenken und Sklaven. Hier herrschen neun zerstrittene Reiche, die mit Landschaft, Ortschaften, Regierung und lokalen Legenden vorgestellt werden. Sie ähneln am ehesten typischen Fantasyländern, samt dem paradiesischen, aber intriganten Adelsreich (Iscobal) oder dem früheren Imperium, das versucht, an seine einstige Macht anzuknüpfen (Pytharon). Der deutlich interessantere Teil der Ninth World ist das ebenfalls ausgestaltete Beyond, jenseits der natürlichen Grenzen von Standfast, wo freie Städte und Kulte um verlassene Maschinen gedeihen.
Die Regeln: W20 in einfach
Fähigkeiten und Charaktertypen erinnern stark an Dungeons & Dragons.
Fähigkeiten und Charaktertypen erinnern stark an Dungeons & Dragons.
Auch beim Regelsystem geht Numenera eigene Wege. Das Cypher-System benutzt einen W20 für Tests, setzt sich aber vom ähnlichen d20-System von Wizards of the Coast ab. So werden Schwierigkeiten in Stufen gerechnet, wobei jede Stufe mal drei den tatsächlichen zu erwürfelnden Wert ergibt (Schwierigkeit 4 = Testergebnis 12 oder mehr). Diese Umrechnung ermöglicht fein abgestimmte Boni trotz kleiner Wertespannen. Dazu setzt Numenera auf eine Pool-Mechanik, aus dem der Spieler jederzeit Punkte ausgeben kann, um per Effort die Schwierigkeit eines Tests zu reduzieren.
Die Regeln sind dabei schnell und während des Spielens kaum im Weg. Gerade die Sonderfähigkeiten sind übersichtlich und intuitiv gestaltet. Wie in fast allen Fantasy-Systemen sind natürlich die Tricks der Magier (Nanos) deutlich spannender als der ewig langweilige Rundum-Angriff der Krieger (Glaives), was jedoch dadurch ausgeglichen wird, dass jeder Charakter über eine Spezialisierung (Focus) Zugriff auf besonders beeindruckende Abilities hat. An solchen Stellen merkt man, dass Monte Cook versucht hat, alte D&D-Gewohnheiten aufzubrechen. Doch eingefleischten Spielern von Dungeons & Dragons und Pathfinder dürften Numeneras Regeln nicht ausgefeilt genug sein und zu oft auf den Spielleiter verweisen.
Charaktererschaffung: Descriptor, Type und Focus
Die Spieler übernehmen in Numenera die Rollen von Abenteurern, die alte Ruinen der vorherigen Zivilisationen erkunden und nach Artefakten der Vergangenheit suchen. Monte Cook setzt auf Einsteigerfreundlichkeit und stellt den Spielern dazu ein Baukastensystem zur Verfügung, das Charaktere mit Descriptor, Type und Focus beschreibt.
Descriptor ist ein Adjektiv, das einen Vorzug des Charakters betont, etwa charming, clever oder stealthy. Es gewährt bestimmte Wertevorteile und Skills.
Types entsprechen Klassen, die Grundwerte vorgeben und den Fortschritt des Charakters über Abilities und Enablers ermöglichen, die er erlernen kann. Es existieren drei Types: Glaives sind Krieger, Jacks Diebe und Alleskönner und Nanos Priester und Techno-Magier.
Focus ist quasi eine Spezialisierung des Charakters, die ihm Zugriff auf besondere Abilities verleiht, etwa die Manipulation von Metall, Gedankenlesen oder das Formwandeln.
Die Charaktererstellung geht dabei schnell von der Hand. Charakterentwicklung findet hauptsächlich über zusätzliche Fähigkeiten statt, die (je nach gewähltem Type oder Focus) aus insgesamt sechs Machtstufen erlernt werden können. Tiers, Enabler, Type … hier zeigt sich eine unangenehme Eigenart von Numenera, nämlich das Neubenennen von so ziemlich jedem Systembegriff. Level, Klasse und Spezialisierung hätten es auch getan, zumal sich die einzelnen Elemente genau so verhalten.
Eine positive Eigenart von Numenera ist die Verbindung der Charaktererschaffung mit dem persönlichen Hintergrund. Bei der Wahl des Types muss sich der Spieler aus drei Vorschlägen Gedanken darüber machen, woher die Fähigkeiten seines ‚Helden‘ eigentlich kommen (z.B. Mutation, Training oder Naniten). Dazu legt die Wahl des Focus gleichzeitig persönlichen Hintergrund, Motivation und die Verbindung zur Gruppe fest. Das erleichtert unerfahrenen Spielern den Einstieg und stärkt die Identifikation mit dem Charakter.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Nur für das Entdecken alter Artefakte und Geheimnisse gibt es Erfahrung.
Nur für das Entdecken alter Artefakte und Geheimnisse gibt es Erfahrung.
Die Regeln sind denkbar simpel, flexibel und schnell erlernt. Anfänger freuen sich über den über Tabellen generierten Hintergrund, der sogleich Verbindungen innerhalb der Gruppe und eine Motivation des Charakters miterstellt. Damit ist Numenera gut geeignet für Cons und One-Shot-Abende; nur erfahrene Rollenspieler werden dadurch aber eher eingeschränkt. Vielen Spielern kommt es auch entgegen, dass die Startcharaktere in Numenera schon fähig sind, gefährliche Abenteuer zu bestreiten. Die abwechslungsreichen Abilities und die Effort–Mechanik geben dabei das Gefühl, jederzeit eine Wahl bei den Handlungen zu haben.
Für Unmut in der Spielgruppe dürfte hingegen die Vergabe von Erfahrungspunkten (XP) sorgen. Diese gibt es nämlich nur für Entdeckungen von Numenera, den namensgebenden Überbleibseln der früheren Zivilisationen. Diese Verbindung ergibt zwar innerhalb des Hintergrundes Sinn, doch Dungeoncrawler wollen lieber Erfahrung für Kämpfe abstauben und Storyteller Fortschritte in der Geschichte belohnt sehen.
Auch die alternative Art des XP-Gewinns ist problematisch: GM Intrusion. Dabei kann der Spielleiter jederzeit negative Ereignisse eintreffen lassen, muss dem betroffenen Spieler dann aber 2 XP für seinen Charakter verleihen. Nimmt dieser an, gibt er sofort einen XP an einen anderen Charakter weiter. Der Spieler kann auch ablehnen und muss dann selbst einen Erfahrungspunkt ausgeben. Diese und andere Mechaniken, erinnern an erzähllastige Rollenspiele wie Fate, sind in Numenera aber weniger ausgereift. So können missgünstige Spielleiter etwa durch häufiges Eingreifen an kritischen Stellen Spielern Erfahrungspunkte abluchsen und deren Fortschritt behindern.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Die fünf Abenteuer, die sich im Grundregelwerk finden, sind gut für Anfänger vorbereitet und ermöglichen Spielleitern einen bequemen Einstieg. Wer aber eine längere Kampagne plant, wird Arbeit und Zeit investieren müssen, um aus dem Spiels mehr als ein „Jäger der verlorenen Numenera“ zu machen. Immerhin bietet die Ninth World viele Ansatzpunkte und interessante Schauplätze. Der schwierigste Punkt ist dabei wohl, den richtigen Ton zu finden. In Numenera ist nämlich von düsterer Postapokalypse mit Horror-Elementen bis zum hoffnungsvollen Future-Fantasy um die Zukunft der Menschheit fast alles möglich. Zumindest Spielleiter, die Abwechslung mögen, wird das freuen.
Durch die vielen offenen Fragen und den fehlenden Metaplot steht und fällt eine Kampagne mit der Arbeit des Spielleiters. Numenera unterstürzt diese dabei immerhin durch das Kapitel Running the Game. Hier finden sich nützliche Tipps zur Verwendung von Regeln, Gestaltung von Abenteuern und Beschreibungen von Szenen. Besonders lesenswert ist der Überblick über die diversen Technologien des Settings, von Genetic Engineering bis Stellar Technology. Dazu verrät Monte Cook an dieser Stelle, warum die vergangenen Zivilisationen nicht beschrieben und ausgestaltet wurden. Sie sollen nur als Hintergrund dienen, aber stets mysteriös und fremd bleiben. Das klingt prima, ist aber nur noch mehr Arbeit für Spielleiter, die einen konsistenten Hintergrund wollen. Spielleiterwechsel werden damit verkompliziert.
„… The Ninth World […] is a strange place, not meant to be fully understood. The feel of the setting—the dark mood, the unsolvable mysteries, the unexpected turns, the unanswerable questions, and the enormous dangers—are far more important than the details.“ – Monte Cook
Bonus/Downloadcontent
Ein Besuch auf der offiziellen Website lohnt sich. Hier stehen Charakterbögen, Hilfen zur Charaktererstellung und die Kurzgeschichte The Amber Monolith zum kostenlosen Download bereit.
Fazit
Numenera ähnelt dem Charakterbogen am Ende des Grundregelwerks – eigenwillig, etwas unübersichtlich und voller gut gemeinter Ideen. Als Storyteller gefallen mir die Möglichkeiten und Schauplätze verfallener Zivilisationen und die Geheimnisse der Numenera. Dabei wird das Bizarre und Fremdartige zum Thema erhoben. Eine einheitliche Stimmung und eine weniger absurde Ninth World hätten dem Spiel aber gut getan. Genetisch gezüchtete Kriegsmotten und Pseudo-Dinosaurier wirken einfach nur kitschig.
Wer ansonsten große Überraschungen von Numenera erwartet hat, oder auf ein zweites Planescape gehofft hat, wird enttäuscht werden. Viele Elemente sind nur Science-Fantasy-Übertragungen bekannter Sonderfähigkeiten, Klassen, Klischees und Stereotypen. Besonders die Länder von Standfast hätten abwechslungsreicher gehalten und die Fraktionen mehr ausgestaltet werden können.
Je öfter ich Numenera lese, desto mehr muss ich mir eingestehen, dass mich nur die Idee des Settings begeistert hat. Ich möchte mit einem Nano in alten Ruinen nach verborgenen Artefakten suchen, Cypher aus rostigen Maschinen stehlen und eine kleine Ahnung der untergegangenen Zivilisationen erhaschen. Doch genau hier gibt mir Numenera zu wenig an Informationen und Metaplot. Weit besser funktioniert es als bizarrer Hintergrund für Spielleiter mit eigenen Ideen, als Fantasy-Setting mit Zukunftsanstrich und für Spieler mit Sehnsucht nach Abwechslung.
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