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Nach dem Wegfall des beliebten Marvel Heroic Roleplaying lohnt es sich, mal einen Blick auf Alternativen im Comic-Genre zu werfen.<em>Bulletproof Blues</em> versucht die Nische zu füllen – das wollen wir uns anschauen.
Rezension: Bulletproof Blues
Seit dem ersten Rollenspiel, welches Comics nachbilden wollte (Marvel Super Heroes, 1984), sind mittlerweile fast 30 Jahre ins Land gegangen. Die Faszination ist aber ungebrochen und so haben viele Systeme das Thema neu aufgenommen, teils mit großer Lizenz von Marvel oder DC, teils ohne.
Bulletproof Blues gehört zu letzteren und versucht trotzdem, ein innovatives System und Setting auf die Beine zu stellen. Ob das gelungen ist, wollen wir uns kurz anschauen.
Erscheinungsbild
Bulletproof Blues kommt als recht schlankes PDF daher, geschmückt von einem sehr gut gezeichneten Cover. Soweit so klassisch. Danach erwartet den Leser leider ein fast unbearbeitetes Dokument, denn außer den Überschriften verzichtet das Buch auf Formatierung, wie z.B. Fettungen. Auch ein Hintergrund-Bild oder einen Rahmen für die Texte sucht man vergeblich. Dies ist zwar druckerfreundlich, sieht aber leider nicht sehr gut aus. Da hätte ich mir zwei Versionen gewünscht, denn das Auge liest ja bekanntlich mit.
Die weiteren Illustrationen sind dem Zeichenstil der Comics der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nachempfunden und passen durchaus hinein.
Der Textsatz ist einspaltig und erinnert eher an ein Word-Dokument, als an ein professionell gesetztes Printformat. Gerade beim Lesen auf mobilen Geräten oder E-Book-Readern erschwert dies das Lesen unnötig. Hier wäre ein zweispaltiger Satz deutlich besser geeignet.
Inhaltsangabe und Index sind natürlich vorhanden, und im PDF auch entsprechend intern verlinkt. Diese ist auch bei Hinweisen auf andere Kapitel im Fließtext der Fall. Gut.
Das Werk ist übrigens erschienen unter (CC BY-SA 3.0 US) und der Open Game License, Version 1.0a.
Die Spielwelt
Das gesamte Setting spielt im Kalos-Universum, einem multidimensionalen Comic-Universum, vergleichbar denen von Marvel oder DC. Was den Zugang aber sehr erschwert, sind die ständigen Referenzen auf Ereignisse und Personen innerhalb dieses Universum. So etwas ist zwar interessant, wenn man einer festen und bekannten Lizenz-Zeitlinie folgt, vermittelt dem Leser aber das Gefühl „Das müsste ich wohl wissen – tue es aber nicht“, wenn es sich um eine eigene Erfindung des Autoren handelt. Nach Recherchen der Teilzeithelden gibt es eben kein bekanntes Kalos-Universum und auch keine veröffentlichten Comics des genannten Verlags.
Man muss auch kein ausgesprochener Comic-Spezialist sein, um schnell zu erkennen, dass der Autor sich streckenweise und schamlos bei den Lizenzprodukten bedient hat. Schon geringe Kenntnisse der griechischen Mythologie reichen dazu aus. Die amerikanische Abwehr-Organisation nennt sich z.B. AEGIS (S.H.I.E.L.D) und die Nazi-Mutanten nennen sich GORGON (Hydra).
Darüber hinaus werden recht viele Aspekte der Spielwelt erläutert, auch wenn dem Leser leider nicht immer klar ist, warum die Information einmal relevant sein könnte. So fragt man sich, wozu die Infos über Hersteller von Agrargiften nötig sind.
Die Regeln
Das Regelwerk nimmt für sich selbst in Anspruch ausgesprochen regelleicht zu sein. Normalerweise werden bei einer Aktion zwei W6 geworfen, mit einem Attribut oder einer Kraft summiert und mit einer Schwierigkeit verglichen. Solche Systeme sind eingängig.
Das Regelwerk skaliert sehr gut, so dass es auf allen Machtstufen gut funktioniert. Mächtige Helden sind normalen Minions deutlich überlegen, haben sie es aber mit einem mächtigen Bösewicht zu tun, kann der Kampf schon schnell knackig werden.
Etwas entgegen der Regelleichtigkeit liegt aber das recht hohe Aufkommen von Tabellen, da das System nicht linear skaliert. Eine Differenz von 3 Punkten kann mal das 10fache, das 50fache oder auch das 1000fache sein. Je nach Aktion oder Attribut muss ich nachschauen oder es irgendwo notiert haben. Dasselbe gilt auch für Kräfte – hier haben viele Kräfte eigene Tabellen.
Der Würfelaufwand ist relativ gering, da in Kämpfen nur ein Wurf mit einem fixen Wert+8 verglichen wird, z.B.: 2W6 + Angriff <> 8+ Kraftfeld. Damit hat der Angegriffene keinen direkten Einfluss. Diesen kann er nur über Aktionen wie Blocken oder Ducken erreichen.
Diese sogenannten Reaktionen erfordern ein gewisses Mikromanagement und können den Kampf unübersichtlich werden lassen. So kann man eine Aktion der kommenden Runde vorziehen, muss dann aber natürlich im Kopf behalten, dass man in der nächsten Runde eben nicht mehr agieren kann. Noch deutlicher wird dies beim Sprinten: Sprintet man 3 Runden, kann man die folgenden 30 Runden nicht mehr sprinten. Zumindest streng nach Regelwerk, auch wenn zu vermuten ist, dass diese Regel eigentlich nicht für Kampfaktionen gedacht ist.
Das Initiativesystem kommt ebenfalls ohne Zufall und basiert rein auf den Werten: Einmal als Erster, heißt also immer der Erste.
Das Regelsystem ruft auf fast 15 Seiten zu Rollenspiel und eben nicht „Min-Maxing“ oder „Powerplay“ auf, bietet aber leider sehr viele Ansätze dafür.
Als Anlehnung an die derzeit beliebten Erzählspiele auf FATE- oder FUDGE-Basis gibt es auch in BB sogenannte Plot-Points, die man erhalten kann, wenn man seine eigenen Komplikationen ausspielt. Anders als bei den oben genannten, braucht man aber keine, um seine Stärken zu nutzen. Das gesamte Plotpoint-System nimmt gerade mal drei Seiten (nach fast 100 Seiten Kräften, Talenten und Vorteilen) ein und umfasst z.B. automatische Erfolge, schnellere Heilung, einen Boost-Effekt oder ein spontanes Hinzufügen von Fakten zur eigenen Hintergrundgeschichte.
Insgesamt ist das Regelwerk leider nicht ganz so „regelleicht“ wie es für sich selbst in Anspruch nimmt. Zwar sind die Grundregeln einfach gehalten, aber dadurch dass fast jede Aktion und jede Kraft wieder eine eigene Beschreibung und Auswirkung hat, gilt hier das alte D&D-Motto: „Simple Rules – Many Exceptions!“.
Besonders negativ fällt leider auf, dass sich streckenweise ganze Absätze 1 zu 1 wiederholen. Noch nerviger ist dies, wenn sich lediglich wenige Worte ändern. Dies hat oftmals den Effekt, dass man glaubt, den Inhalt schon zu kennen und diesen einfach überspringt.
Charaktererschaffung
Die Charaktererschaffung von Bulletproof Blues ist grundsätzlich zweigeteilt. Nach der recht umfangreichen Hintergrundgestaltung, die kaum Vorgaben folgt, kommt man zu einer Charakterpunkt-Erstellung, um so die Gleichheit von Spielern und Gegnern zu gestalten. Die reine Anzahl der zur Verfügung stehenden Punkte liegt beim Spielleiter und liegt zwischen 20 (normaler Mensch) und 90 (Kosmische Entität / Gottheit). Treffen Gegner mit vergleichbaren Werten aufeinander, spielen ihre Werte für das zu ermittelnde Ergebnis keine Rolle, da sich die Vorteile gegenseitig aufheben. (Ein Feuerball-3 gegen ein Kraftfeld-4 ist wie Feuerball-11 gegen ein Kraftfeld-12.)
Diese Punkte verteilen sich auf die Aspekte:
• Attribute
• Talente & Expertisen
• Vorteile
• Kräfte & Expertisen
Attribute haben Werte zwischen 1 und 14, dies gilt übrigens auch für Kräfte. Werte von 1-4 werden dabei als menschlich definiert, alles darüber ist für einen normalen Menschen auch mit Training und Erfahrung nicht zu erreichen. Das System ermutigt übrigens dazu, seinen Superhelden auch Werte im unteren Bereich zu geben, da kein Held in jedem Bereich super sein kann. Bedenkt man 8 Attribute, so ist ein normaler Mensch mit 20 Punkten hier schon schnell am Ende angelangt.
Talente als solche werden als Teil des Hintergrundwissens angesehen und sind kostenlos – bringen auch nicht direkt etwas. Anders ist es wenn ein Charakter eine Expertise in einem Fachgebiet hat. Die kostet ihn einen CP und er hat die Möglichkeit „Extreme Erfolge“ zu erzielen.
Vorteile sind etwas wie kleine Kräfte, diese können auch normale Menschen haben. Es geht dabei um Aspekte, wie „reich“, „berühmt“ oder „Perfektes Gedächtnis“.
Zu guter Letzt bietet das Regelwerk allein 70 Seiten Kräfte, die jeweils mit Auswirkung, Kosten und speziellen Erweiterungen beschrieben sind. Diese Erweiterungen erlauben z.B. eine Flächenwirkung, mehr Effekte oder mehr Beteiligte. Hier kann man auch noch eine Expertise wählen.
Mit etwas Übung ist die Entwicklung recht schnell erledigt, erfordert aber teilweise viel Hin- und Hergeblättere, da man bei jeder Kraft schauen muss, wie sich der Rank auswirkt und welche speziellen Erweiterungen man kaufen kann.
Die Charakterentwicklung geht übrigens davon aus, dass der Charakter eben voll entwickelt ist. Das heißt in der Konsequenz, dass es zwar Erfahrungspunkte gibt, diese werden aber so spärlich ausgegeben, dass man mit etwas Glück und viel Engagement einen Wert oder eine Kraft pro Handlungsbogen (ca. 12 Sessions) verbessern kann.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Der Autor hat sich sehr viel Mühe gegeben, Probleme aufzuzeigen, sei es „Powergaming“, „Overacting“ oder „Mr. Lazybones“ und den theoretische Aufbau eines Abenteuers (Plot, Hook, Conflict) zu erklären. Leider vermisst man beim Lesen etwas den Hinweis, dass das Ganze auch Spaß macht.
Das PDF kommt übrigens ohne Abenteuerideen oder gar ein Szenario daher. Was hier gut getan hätte, wäre ein Einsteigerabenteuer mit vorgefertigten Charakteren und Gegnern. Diese sind nicht nur aus Gründen des Schnelleinstiegs praktisch, sondern vermeiden vor allem, dass man gleich in der ersten Session böse Überraschungen erlebt, siehe auch „Spielersicht“.
Die im Regelwerk immer wieder angesprochenen Ursprungs-Comics der Beispielhelden aus dem Kalos-Verlag sollten es dem Spielleiter erleichtern, einen Einblick und so Ideen zu bekommen. Da weder der Verlag, noch die Comics aber wirklich existieren, verbrennt man seine Zeit auf der Suche. Ärgerlich!
Spielbarkeit aus Spielersicht
Patrick: Anders als ICONS (Anm. d. Autors: wo Charakterfähigkeiten durch den Zufall bestimmt werden) spült Bulletproof Blues seine Spieler nicht einfach ins Abenteuer, sondern erfordert durch die Charaktererstellung schon eine recht intensive Beschäftigung mit dem System. Hat man dieses aber verinnerlicht und jeder zumindest die Regeln für die eigenen Fertigkeiten im Kopf (oder auf dem Papier), so spielt es sich recht flüssig.
Kämpfe sind extrem flüssig und schnell, leben aber von der Beschreibungsfähigkeit der Spieler. Größtes Problem ist das vollständige Fehlen eines Balancing-Systems, so fällt es extrem leicht – absichtlich oder unabsichtlich – einen Charakter zu erschaffen, der durch hohe Schutz- oder Angriffswerte zu einer unbesiegbaren Festung wird. Darüber hinaus hat man schnell raus, welche Werte man „optimieren“ muss, um z.B. immer als Erster zu handeln, da der Kampf keinen Zufall in der Initiative kennt.
So geraten ausgeglichen Charaktere schnell ins Hintertreffen und werden zu Stichwortgebern degradiert.
Olaf: Anders als viele andere Produkte, die sich mit Comics beschäftigen, verwendet Bulletproof Blues ein sehr hohes Maß an Crunch. Da diese Zahlen aber oftmals anders interpretiert werden, muss man oft nachschlagen oder die Benchmark-Tabelle (siehe Grafik unten) ausdrucken. Das Spiel selber hängt stark von der Geschichte ab. Hier sollte man vorher gut besprechen, was man möchte, z.B. kampflastig, investigativ oder soziale Interaktion, sonst kann es schnell sein, dass die Charaktere nicht zur Handlung passen.
In unserem ersten Abenteuer waren viele Gegner zu einfach und lagen nach der ersten Runde am Boden, konnten aber ihrerseits mit konventionellen Waffen kaum etwas gegen die "Posthumans" ausrichten. Der kopflastige Charakter aus der Gruppe wurde dagegen schon durch einen Streifschuss niedergelegt. Die extreme Beweglichkeit aller Charaktere macht das Spielen mit Miniaturen oder auf der Battlemap eigentlich unnötig. Wer sich 1km in 6 Sekunden bewegt und dann noch über 1km weit schießt, ist klar im Vorteil.
Das Ausspielen der Plotpoints ist interessant, aber bietet doch recht wenige Besonderheiten, bringt dabei aber auch das Spiel kaum aus dem Gleichgewicht.
Preis-/Leistungsverhältnis
Die PDF-Variante kostet lediglich 3,50 EUR, dafür kann man nicht viel falsch machen. Leider gibt es wenig Argumente, selbst diese auszugeben, da Bulletproof Blues zwar das Wunschsystem der Autoren sein mag, jedem anderen aber einfach zu wenig Neues oder Interessantes bietet.
Oftmals können gerade Nischenprodukte durch ein tolles Setting überzeugen, aber auch dies kann Bulletproof Blues nicht leisten.
Fazit
Bulletproof Blues beginnt mit den Worten, dass es sicherlich nicht das beste, sondern nur das Wunschsystem der Autoren ist. Dem kann man so zustimmen. Die Regeln hätten deutlich mehr Feinschliff und Balancing vertragen können, da hilft es auch wenig, wenn darauf hingewiesen wird, dass dies nicht die Aufgabe eines Rollenspielsystems sein kann. Selber versehentliches Powergaming ist ärgerlich, wenn man einfach keine Schwäche zeigen kann.
Setting und Dokument machen leider einen sehr unmotivierten Eindruck. Besonders ersteres soll durch das Zusammenwirken und Hochladen eigener Ideen und Charaktere wachsen. Die Idee ist gut, aber hinterlässt leider ein recht leeres Startuniversum, welches Alles und Nichts sein will.
Die Strategie eine fiktive und eine reale Historie eines Comic-Verlages und -Universums zu vermengen, mag gut gemeint gewesen sein. Kam mir aber wie eine Frechheit vor, da man sinnlos Zeit vertut und nur durch direkte Nachfrage beim Autor erfährt, dass man sich das hätte ersparen können.
Positiv ist anzumerken, dass es leicht fällt, seine Charakteridee umzusetzen, mit Stärken und Schwächen, ohne dass man sich massiv verbiegen müsste. Dies erleichtert die spätere Immersion und damit die Bereitschaft ein spannendes Spiel zu gestalten.
Unsere Bewertung
Erscheinungsbild 3/5
Das PDF ist ziemlich schlicht designt, das ist okay, fördert aber nicht die Lust am Lesen.
Spielwelt 1/5
Die Idee eine Pseudo-Comicwelt inkl. Verlag zu erschaffen, ist äußerst verwirrend. Die Comicwelt bietet wenig mehr als unmotivierten Ideenklau.
Regeln 3/5
Die Regeln sind schnell und einfach, bieten aber recht viele Sonderregelungen, die man im Kopf behalten muss.
Charaktererschaffung 2/5
Ein Charakter ist schnell erschaffen, erfordert aber anfangs viel Lesen und Blättern. Es gibt kein Balancing-System.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht 3/5
Neben dem schwachen Setting gibt es keinerlei vorbereitete Abenteuer oder Einführung. Die theoretische Hinführung ist aber gut gelungen.
Spielbarkeit aus Spielersicht 3/5
Wenn jeder seine Regeln im Kopf hat, spielt es sich schnell. „Fair“ gestaltete Charaktere können aber schnell aus dem Gleichgewicht geraten.
Preis-/Leistungsverhältnis 4/5
Für gerade mal 3,50 EUR kann man nicht viel falsch machen.
Gesamt 2,5/5
Insgesamt bietet Bulletproof Blues mehr Komplikationen als Lösungen und kann mit den großen Lizenz-Produkten nicht mithalten. Das Geld kann man besser investieren, da nicht mal neue Ideen geboten werden.
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