„Was mach ich eigentlich hier?“ ist die erste Frage, die ich mir beim Schreiben dieser Rezension gestellt habe. Warum? Nicht etwa, weil der Band irgendwelche herausragenden Mängel hat, oder ich den Band von vornherein blöd finde. Nein, der Grund für diese Frage ist die jüngste Entwicklung im Hause Margaret Weis Productions. Was ist passiert? Für einen bekennenden Fan von Cortex Plus und dem Marvel Universum (auch wenn ich letzteres erst kürzlich für mich wieder entdeckt habe), ist die Katastrophe schlechthin eingetreten: Margaret Weis Productions hat die Marvel-Lizenz verloren, bzw. zurückgegeben, bzw. nicht verlängert. Was davon nun stimmt – ich weiß es nicht. Für uns Rollenspieler ist das auch relativ egal. Es ist einfach nur blöd!
Nicht nur, dass kein neues Material erscheinen wird (es war ja noch einiges in der Pipeline), nein! Auch bisheriges PDF-Material wird nicht mehr vertrieben. Es ist nicht mehr erhältlich. Schon jetzt sind aus den diversen Online-Shops die Bände verschwunden. Die Printausgaben (so aufgelegt) können natürlich nach wie vor gekauft werden – solange der Vorrat reicht.
So weit, so schlecht. Komme ich also zum eigentlichen Grund warum ich hier sitze: Der Rezension zu Marvel Heroic Roleplaying Game – Civil War – X-Men.
Der vorliegende Band ist ein Zusatzband zum Civil-War Settingband. Er ermöglicht den Spielern und dem Spielleiter bzw. Watcher, Mutanten ins Feld des Bürgerkrieges der Superhelden zu führen. Der Band ist sozusagen ein Ergänzungsband zum Ergänzungsband Civil War.
Erscheinungsbild
Ich habe hier das PDF Marvel Heroic Roleplaying Game – Civil War – X-Men vorliegen. Der Band umfasst 134 farbige Seiten und ist ohne das zugehörige Event Book Civil War nicht spielbar. Das PDF ist in englischer Sprache.
Die Schrift ist auf meinem Tablet bequem lesbar. Die Verlinkung von Inhaltsverzeichnis und Index ist vorbildlich. Die Navigation innerhalb des Dokumentes ist also einfach möglich. Das Layout selbst ist, wie schon beim dazugehörigen Settingband, sehr verschwenderisch. Am Rand ist häufig ein großer freier Streifen zu sehen. Die üppigen, durchgehend farbigen Illustrationen sind zwar alle nett anzusehen und stimmen gut auf den Band ein, knabbern aber nichtsdestotrotz kräftig am verfügbaren Platz auf jeder Seite. Wie schon beim Vorgängerband werde ich das Gefühl nicht los, dass Seiten geschunden werden mussten.
Inhaltlich ist der Band nicht einfach zu beurteilen. Von den 134 Seiten, sind ca. ¾ der Seiten Datenblätter der diversen Mutanten. Da bleiben nur knapp über 30 Seiten rezensierbarer Text übrig. Dazu kommt noch das verschwenderische Layout, das den Textanteil des Bandes nochmal reduziert.
Inhalt
Wie schon der Vorgängerband, eignet sich der vorliegende Band nicht dazu, ihn kurz vor der nächsten Spielsitzung durchzuarbeiten. Der Spielleiter sollte sich einige Zeit nehmen um sich in den Text einzuarbeiten und sich zu überlegen, wie die hier enthaltenden Informationen am Besten in die Civil War-Kampagne eingearbeitet werden können. Zwar gibt der Band dazu einige Tipps und Hinweise, um das volle Potential des Bandes auszunutzen, ist aber einiges an Eigenarbeit notwendig – wie ich finde, eine durchaus lohnender Aufwand. Gerade die besondere Situation der Mutanten nach den Ereignissen nach House of M und dem M-Day bietet viel Potential für absolut erstklassiges Rollenspiel.
Damit wäre ich auch gleich beim eigentlichen Inhalt des Bandes. Wem House of M und M-Day nichts sagt, findet hier einen kurzen Abriss über die vergangenen Ereignisse. Mir als Leser, der in das Marvel-Universum erst mit Civil War wieder eingestiegen ist, boten mir diese Seiten genügend Informationen, um mir die Situation der verbliebenen Mutanten vorzustellen.
Moment! Verbliebene Mutanten? Ja! Während des M-Days verloren ein Großteil der Mutanten das X-Gen und somit ihre Fähigkeiten. Aus Millionen wurden wenige hundert. Und 198 von ihnen leben kaserniert in einem Zeltlager auf dem Gebiet des Institutes von Professor Xavier. Bunt gemischt leben die verbliebenen Helden und Schurken zusammen, beschützt bzw. bewacht von den Sentinels des Office of National Emergency (ONE). Gefürchtet und gehasst von vielen der „normalen“ Menschen gleichermaßen, leben die letzten Mutanten der Erde in freiwilliger Isolation und gelten als neutral im aufkommenden Civil War.
Diese eine Seite Hintergrundinformationen bietet natürlich keine allumfassende Erklärung über die vergangenen Ereignisse, der Spielleiter sollte hier aber genügend Anhaltspunkte finden um sich alles notwendige zu ergoogeln (auch hier ist Tante Wiki dein Freund).
Der Band geht zunächst einmal auf die gegenwärtige Situation der Mutanten ein. Es folgt eine Auflistung der verschiedenen Spieloptionen. Was bedeutet es, einen der legendären X-Men zu spielen? Bekannt wie ein bunter Hund? Gehasst, geliebt, gefürchtet? Wie wäre es, in die Haut einer der neuen X-Men, oder einer der neuen Studenten zu schlüpfen?
Oder aber, man spielt einen der anderen 198 Mutanten. Deren Kräfte sind zwar nur vergleichsweise gering, im direkten Vergleich zu den übermächtig erscheinenden Alpha und Omega-Mutanten. Rollenspielerisch hört sich das aber nichtdestotrotz nach einer gelungenen Herausforderung an.
Das Buch hat aber noch mehr zu bieten. Ebenso im Rahmen des Möglichen ist es, eine der Sentinel-Einheiten in den Civil War zu führen. Die Gründe können vielfältig sein. Desertierte der Sentinel-Pilot um „das Richtige“ zu tun? Um Partei im Civil War zu ergreifen? Oder folgt er nur einer neuen Liebe oder einem neuen Freund in die Schlacht? Wurde er als Aufpasser oder Beschützer einer Gruppe von Mutanten zur Seite gestellt? Oder liegen ganz andere Gründe für die Anwesenheit eines Sentinels in der Kampagne vor?
Im Anschluss an diversen Datenblätter sind einige mögliche Szenen kurz angerissen. Das Format folgt dem bereits aus Civil War bekannten Schema.
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Field Trip with ONE
Auf einem Ausflug um ein neuartiges Trackingdevice zur Kontrolle von Mutanten zu testen, stößt man auf einen Mutanten, der umringt von ONE Agenten tot auf der Straße liegt. Wie wird diese kritische Situation gelöst?
198 Breakout
Chaos überall. Eine Gruppe namens X-Force beschließt einige Mutanten zu befreien, bzw. ihnen die Chance auf Freiheit zu geben. Wie werden sich die Spielercharaktere verhalten? Brechen sie mit aus? Versuchen sie die Ordnung aufrecht zu erhalten?
Battle in Nevada
Die Gruppe der Ausgebrochenen wurde aufgespürt. Ihnen sind sowohl Sentinel-Einheiten von ONE und die X-Men auf der Spur. Wie wird der Konflikt ausgehen? Auf welcher Seite stehen die Spielercharaktere?
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Eine weitere spielbare Option bietet sich in X-Factor Investigations. Eine Gruppe von ermittelnden Mutanten, die sich in Mutant Town als Detektei einen Namen gemacht haben. Ich stelle es mir spaßig vor, diese Gruppe von Spielern besetzt zu sehen.
Ebenso wie schon zuvor bei den X-Men und Professor Xaviers Institut wird auf einer Seite kurz auf die aktuelle Situation der Mutanten bzw. Ex-Mutanten in Mutant Town eingegangen. Es folgen die diversen Datenblätter dieser Superheldengruppe, gefolgt von einigen Einstiegspunkten, wie Mutanten als auch X-Factor Investigations in die Kampagne eingebunden werden können.
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You lied to us!
X-Factor wird angeheuert um den Ursachen für den Massenhaften Mutantenschwund auf die Spur zu kommen.
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Preis-/Leistungsverhältnis
Als ich diese Rezension angefangen habe zu schreiben, war das PDF leider schon aus den Shops verschwunden. Eine Aussage zum Preis-/Leistungsverhältnisses kann ich also leider nicht treffen.
Fazit
Meine erste Reaktion beim Lesen des Bandes war: „Mensch ist das Dröge. Viel zu wenig Material.“ Nachdem ich aber erst mal angefangen habe zu lesen, war mir relativ schnell klar, wie viel Potential zu richtig genialem Rollenspiel der vorliegende Band bietet. Die Spannungen innerhalb der verbliebenen Mutanten, die Konflikte mit ONE, das Misstrauen der „normalen“ Bevölkerung – all das bietet unheimlich viel Stoff um intensive Geschichten zu erleben – auch abseits des eigentlichen Hintergrundes der Kampagne. Ich sehe hier sogar so viel Möglichkeiten um zu sagen, dass ich viel lieber eine eigene Kampagne erleben wollte und ganz auf den Civil War Hintergrund verzichten könnte.
Was kann man mehr von einem Zusatzband zu einem Zusatzband erwarten, der auch noch in recht begrenzter Seitenzahl daherkommt? Es ist allerdings anzumerken, dass der Spielleiter hier sehr viel Eigenleistung erbringen muss.
Bonus/Downloadcontent
Folgende Linkliste ist zwar nicht Bestandteil des rezensierten Bandes, doch dürfte sie Spielern, welche mit dem Marvel-Universum nicht vertraut sind einen guten Einblick in das fehlende Hintergrundmaterial bieten:
Civil War: http://en.wikipedia.org/wiki/Civil_War_(comics)
House of M: http://en.wikipedia.org/wiki/House_of_M
M-Day: http://en.wikipedia.org/wiki/Decimation_(comics)
Sentinels: http://en.wikipedia.org/wiki/Sentinel_(comics)
Unsere Bewertung
Erscheinungsbild 5/5 Viele farbige Illustrationen, gute interne Verlinkung des PDFs.
Inhalt 2/5 Viel Datenblätter, wenig spielbares Material, dafür aber sehr viel Potential bei viel Eigenleistung.
Preis-/Leistungsverhältnis - Entfällt.
Gesamt 3,5/5 So sehr ich auch das Potential schätze, das der Band bietet, mehr spielbares Material wäre wünschenswert gewesen.
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