http://www.teilzeithelden.de/2014/03/05/rezension-nights-of-the-crusades/
Wer sagt eigentlich, dass gute Rollenspiele heutzutage nur per Kickstarter und mit großem finanziellen Aufwand gemacht werden können? Nights of the Crusades ist ein wundervolles Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Das Spiel und seine Erweiterungen wurden allein von M.J. Alishah geschrieben, gelayoutet und illustriert. Dazu entführt das Rollenspiel den Leser in ein faszinierendes und bisher kaum vom Pen&Paper erschlossenes Setting: Das mittelalterliche Morgenland.
Die Spielwelt
Nights of the Crusades spielt zur Zeit der Kreuzzüge im Land zwischen Byzanz und Damaskus. Die Kreuzritter haben die Heilige Stadt erobert und das Königreich Jerusalem ausgerufen. Verbündet mit dem fernen Byzanz, festigen sie ihre Kreuzfahrerstaaten von Antiocha bis Akkon, während die Sarazenen sich gegen die Eroberer auflehnen. Händler versuchen die neue Situation für sich zu nutzen, während die Assassinen der Nizari im Verborgenen die Fäden ziehen und manchen Fürsten zu Fall bringen. Das Spiel legt dabei großen Wert auf eine düstere und realistische Beschreibung der Zeit, wobei auch heikle Themen wie Sklaverei oder Armut nicht fehlen.
Doch Nights of the Crusades ist kein rein historisches Setting, sondern verbindet den historischen Hintergrund mit Sagen und den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Dadurch wird das Spiel zu einem fantastischen Setting vor historischem Hintergrund – Pendragon lässt grüßen. Vor allem die Wüstengeister der Djinni und ihrer Diener spielen dabei eine große Rolle und stellen das greifbarste übernatürliche Element dar. Dass die Stimmung dabei schon mal von Bedrohung zu Horror wechselt, unterstreicht den erwachsenen Anspruch des Spiels.
Das System
Auch bei den Regeln geht Nights of the Crusades eigene und ungewöhnliche Wege. So werden Charaktere nicht durch klassische Attribute, sondern Expertise-Werte definiert (Kommunikation, Tapferkeit, Nahkampf, Fernkampf und Wissen). Die errechnen sich aus den zu ihnen gehörenden Fähigkeiten, die wiederum mit bestimmten Vorteilen versehen sind. So bringt die Fähigkeit Beggar Prince die Möglichkeit mit, Gefolgsleute zu sammeln, während Backstab ein hinterhältiges Kampfmanöver ermöglicht. Durch die Vielzahl dieser ungewöhnlichen Fähigkeiten lassen sich Charaktere leicht personalisieren und auch nicht-kämpfende Charaktere nehmen schnell ihren Platz im Spiel ein. Dazu gibt es Klassen, doch Artist bis Outcast spielen nur in der sozialen und politischen Wahrnehmung des Charakters eine Rolle und schränken die Spielmöglichkeiten nicht ein. Die Charaktererstellung, liebevoll „Conjuring a Character“ genannt, geht dabei überraschend schnell und problemlos vonstatten.
Überhaupt verbindet Nights of the Crusades gekonnt den stimmigen Hintergrund mit einem leichten, aber vor allem in den Kämpfen taktisch durchdachten System. Dessen Grundlage ist ein prozentuales Wahrscheinlichkeitssystem und entsprechend ein W10 oder W100, je nachdem, ob man gegen eine feste Schwierigkeit oder einen Kontrahenten antritt. Doch Konflikte bestehen nicht nur im körperlichen Bereich – so ermöglicht das System soziale Konflikte beim Handeln, Feilschen und Überreden, wobei Argumente vorgetragen werden und auch die Sprachfähigkeiten der Charaktere eine Rolle spielen.
Die wohl auffallendste regeltechnische Besonderheit von Nights of the Crusades ist aber die Mechanik des Geschichtenerzählens. Charaktere können miteinander oder mit Nichtspielercharakteren zusammen Geschichten erzählen und dadurch Pearls of Wisdom genannte Bonuspunkte erlangen. Diese können für eine Vielzahl von Vorteilen ausgegeben werden, vom Neuwürfeln eines Tests bis zu mehr Einfluss bei bestimmten Organisationen. Elegant bindet von M.J. Alishah hier die Traditionen des Settings in das System ein – ein Beispiel guten Spieldesigns!
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Die Vermischung von Historie und Fantasy ermöglicht dem Spielleiter, in Nights of the Crusades stimmungsvoll „Story-Weaver“ (also Geschichtenweber) genannt, große Freiheit in der Gestaltung der Abenteuer. Er kann sich sowohl bei geschichtlichen Ereignissen als Handlungsrahmen, als auch bei Sagen und Märchenfiguren bedienen. Ganz nebenbei nimmt dies auch nörgelnden Hobbyhistorikern am Spieltisch den Wind aus den Segeln.
Charaktere unterschiedlicher politischer Zugehörigkeiten und verfeindeter Religionen stellen besondere Ansprüche an die Gestaltung einer Kampagne. Doch gerade erwachsene Geschichten von Schicksalsgemeinschaften über solche Grenzen hinweg, persönliche Erzählungen um Vertrauen und Verrat, sind perfekt in Nights of the Crusades aufgehoben.
So beginnt das mitgelieferte Einführungsabenteuer auf einem sinkenden Handelsschiff mit einem gemeinsamen Überlebenskampf. Das Fehlen von genauen Zeitangaben ermöglicht es dem Spielleiter, das Setting frei zwischen dem Beginn der Kreuzzüge im 13. Jahrhundert und dem Ende des europäischen Einflusses im Morgenland zum 15. Jahrhundert spielen zu lassen. Das Fehlen eines genaueren Hintergrundes erfordert aber auch zusätzliche Arbeit vom Spielleiter. Ein Kampagnenband, der den genannten Zeitraum umfasst, fehlt bisher. Abenteuerideen beziehen Spielleiter daher vor allem aus dem Appendix, der Monster vorstellt, wie Königin Sesheshet, die vampirhafte Attentäterin von Kairo oder die Djinni als übernatürliche Strippenzieher.
Spielbarkeit aus Spiellersicht
Spieler genießen in Nights of the Crusades große Freiheit. Sie können politisch aufsteigen und Ruhm und Reichtum erwerben – das erinnert, nicht zuletzt durch ein simples aber funktionierendes Handelssystem, an Sandbox–Rollenspiele wie Traveller. So ist sogar als Symbol of Power und ultimative Belohnung der Besitz eines eigenen Lehens angedacht, samt jährlichen Ereignissen von Überfällen bis hin zu Seuchen.
Doch bis dahin muss man vor allem eines: nämlich überleben. Zahlreiche Feinde, von wilden Ghoulen bis mystischen Bestien wie Rukh–Vögeln machen dies nicht gerade einfach. Dabei konfrontiert Nights of the Crusades die Spieler auch mit für ein Rollenspiel ungewöhnlichen Themen, etwa Sklaverei, Hass auf bestimmte Gruppen als hindernde oder unterstützende Mechanik oder Nachteile durch persönliche Armut. Besonders ungewohnt dürften psychische Auswirkungen von Tötungen und Gewalt auf die Psyche der Charaktere sein. So riskiert ein Held durch die Trauma–Mechanik sogar schon beim Beobachten von exzessiver Gewalt seine seelische Gesundheit. Damit legt Nights of the Crusades klar einen Fokus auf ernste Geschichten und könnte unbedarfte ‚Dungeonschnetzler‘ verstören. Am Charakterspiel interessierte Rollenspieler dürften diesem erwachsenen Erzählansatz und dem politisch brisanten und konfliktbeladenen Hintergrund umso mehr abgewinnen können.
Ein Problem für Spieler könnte jedoch die Einbindung der Frauenfiguren ins Setting sein. In einem kurzen Abschnitt thematisiert M.J. Alishah das sogar selbst. Der Verweis auf abenteuerlustige Frauengestalten wie Shahrazad reicht nicht aus, um weibliche Charaktere gut spielbar zu machen. Hier muss entweder der historische Hintergrund gebogen oder Cross-Gender gespielt werden. Doch dies ist eine grundsätzliche Eigenschaft von mittelalterlichen Settings, von Pendragon bis nun eben Nights of the Crusades.
Preis-/Leistungsverhältnis
Wer bis hier gelesen hat und sich nun mit einer Kaufentscheidung plagt, dem sei diese nun abgenommen. Denn das rund 100seitige, liebevoll illustrierte und gut geschriebene Grundregelwerk ist kostenlos erhältlich. Nein, kein Spaß, kostenlos! Und dabei wird auch noch eine hohe Qualität geboten, die so manchem Autor einer teuren Rollenspiel-Niete die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste. Nur die Pathfinder-kompatible Regelversion kostet etwa fünf Euro.
Erscheinungsbild
Night of the Crusades CoverAn dieser Stelle bei einem kostenlos erhältlichen, inhaltlich stimmigen Ein-Mann-Rollenspiel über das Erscheinungsbild zu nörgeln wäre müßig. Tatsächlich sind die Illustrationen eher Skizzen, die nicht den Standard anderer Rollenspiele erreichen und trotzdem die düstere Stimmung des Settings transportieren. Dazu kommt ein vorbildlicher detaillierter Index des PDFs, der das Finden bestimmter Kapitel und Informationen erleichtert. Ein nettes Feature ist zudem die Querverlinkung von Begriffen, sowie die Verlinkung bestimmter historischer Personen und Organisationen auf Wikipedia-Artikel als Erklärungshilfe.
Erweiterungen
Wer M.J. Alishah und Nights of the Crusades finanziell unterstützen möchte, dem seien wärmstens die günstigen Erweiterungsbände ans Herz gelegt. Diese sind vor allem für Spielleiter geeignet um Kampagnenideen zu sammeln:
The City of 10 Rings beschreibt eine sagenumwobene Stadt der Brüder der Reinheit, einem muslimischen Philosophen-Geheimbund. Sie ist frei erfunden und kann beliebig im Morgenland platziert werden. Die namensgebenden Ringe der Stadt unterscheiden sich thematisch und bieten zahllose Nichtspielercharaktere, zufällige Ereignisse und Plotideen. Nights of the Crusades gewinnt durch die Erweiterung einen zentralen Spielort, der dem Setting mehr eigenen Charakter abseits der historischen und literarischen Vorlagen verleiht.
The Tower by the Sea ist ein vollständiges Abenteuer. Die Spielercharaktere werden nach einem Sandsturm von einer alten Heilerin gesundgepflegt. Auf der Heimreise werden sie im nahen Ort Nur’Kush von einem übernatürlichen Übel befallen, das die Heilerin entfesselt haben soll. Um zu entkommen, müssen sie die Wahrheit herausfinden. In diesem Abenteuer merkt man deutlich den unterschwelligen Horror-Aspekt von Nights of the Crusades. Gut ausgestaltete Nichtspielercharaktere mit eigenen Motivationen, Einsichten und Geschichten sowie ein detailliert ausgearbeiteter Ort, neue Gegenstände und Fähigkeiten runden die Erweiterung ab.
100 Travel Encounters — Tales for Dark Roads ist die vom Umfang kürzeste Erweiterung und bringt einhundert kurze Zufallsbegegnungen für Reisen im Morgenland mit sich. Diese können für Sandboxartige-Spielsitzungen oder als Plotvorschläge für Spielleiter benutzt werden. Dazu gibt es vier neue Krankheiten wie Ghoul‘s Touch oder Breath of Ishtar.
Bonus/Downloadcontent
M.J. Alishah hat Nights of the Crusades gleich den passenden düster-schweren Soundtrack in Form einer Sportify Playlist beigefügt. Diese lässt sich auch sehr gut für andere orientalische Settings nutzen – ein vorbildlicher Service, den andere Rollenspiele in Zukunft gerne übernehmen können.
Fazit
Nights of the Crusades ist eine Indie-Rollenspiel-Perle, die die Nominierungen für den Origins Award und ENnie 2013 fraglos verdient hat. Die Verbindung von düsterer Kreuzfahrerzeit und Sagen aus Tausendundeiner Nacht geht in einem famosen und gut recherchierten Historien-Fantasy-Setting auf, das den Vergleich mit Pendragon nicht scheuen muss.
Dabei traut sich Autor M.J. Alishah sogar, erwachsene Themen anzuschneiden und zeigt damit, dass der Orient im Medium nicht bloß aus klischeehaften Bauchtänzerinnen und Krummsäbeln +4 bestehen muss. Alleine das hätte Applaus verdient! Dass Nights of the Crusades zusätzlich ein gutes Rollenspiel ist und das Grundregelwerk kostenlos zur Verfügung steht, lässt eigentlich keine Wünsche offen.
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