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The Veggie Patch ist ein Rollenspielsystem von Jason Anderson, das genau das möglich macht: Man schlüpft leib– und wahrhaftig in die Rolle eines bestimmten Gemüses. Die einen mögen fragen „Muss das sein?“, hier mal mehr zur Frage „Wie kann das sein?“.
Die Spielwelt
Es ist ein sehr skurriles Setting, das hier aufgeboten wird. Doch soviel sollte einem ja schon beim Kauf des Werks klar sein, denn immerhin schlüpft man in die Rolle eines Gemüses.
Das Dargebotene ist denkbar simpel: Es gibt ein Gemüsebeet, in dem allerlei Gemüse fröhlich und selbstverantwortlich vor sich hin wächst. Selbstverantwortlich? Ja, denn sie können sich bewegen, können sprechen, sind denkende und fühlende Wesen. Menschen oder Tiere haben sie hingegen nicht zu befürchten, denn beides gibt es nicht in ihrer Welt. Ihre Welt ist vielmehr begrenzt auf ein Beet für die jungen und eins für die erwachsenen Gemüse, einen kleinen Schuppen, eine Müllhalde, einen Komposthaufen und eine selbst gebaute Bar, in der man mit Genussmitteln wie Kompost-Tee und Abyss, einem starken Rauschtrunk, handelt.
Es gibt noch die menschengroßen Figuren an der Nordseite, an die einige Gemüse gute Wünsche richten, vor allem jedoch die Ansammlung von weisen Apfelbäumen, die wie mit einer Stimme sprechen und schon vor dem so genannten Wandel über ein gewisses Bewusstsein verfügten. Durch ihre Erinnerungen und ihre Weisheit leiten die fest verwurzelten Apfelbäume die Gemüse durch ihr Leben.
Doch hinter der Hecke und hinter dem Tor, dort lauern die Gefahren, die alle Gemüse fürchten: Es sind die Kohlgewächse in einem Beet nebenan, das Unkraut in der so genannten Wildnis und noch gefährlichere Kreaturen wie Vögel, Hasen und gar Schlangen. Kaum ein Gemüse traut sich in diese gefährlichen Gefilde hinaus, und wenn doch einmal ein Trupp aufbricht, so kehrt er oft genug nie wieder zurück …
Auf den wenigen Seiten des Regelwerks gelingt es dem Autor, eine durchaus lebendige Welt aus der Sicht von Gemüse zu erschaffen, die sich für verschiedene Arten von Geschichten gleichermaßen eignet. Ob man nun eher eine beschauliche Gemüse-Simulation auf das Beet begrenzt spielen will, ein gemüsepolitisches Spiel im Zusammenhang mit den Kohlgewächsen des Beets nebenan, oder ob es doch der klassische Abenteuerplot draußen in der Wildnis sein soll, all das ist mit den Informationen aus dem Regelwerk möglich.
Doch man ist nicht einmal darauf angewiesen, anhand der Beschreibungen eigene Geschichten zu kreieren. Vielmehr bietet der separate Spielleiterteil des Buches noch die „Auflösung“ des Ganzen an und erklärt, warum die Gemüse ein Bewusstsein haben, wie es zum Wandel gekommen ist, warum im Beet keine Menschen und Tiere zu sehen sind und einiges mehr. Darüber hinaus werden ein gutes Dutzend Plotaufhänger angeboten sowie Optionen, The Veggie Patch als längere Kampagne zu spielen oder in eine bestehende Kampagne einzubetten, beispielsweise One-Shots im Rahmen einer laufenden Fantasy-Kampagne mit den „üblichen“ Abenteurern.
Die Regeln
Veggie Patch CoverDie Regeln sind simpel und leicht zu erlernen. Jedes Gemüse verfügt lediglich über 5 Attribute sowie eine Anzahl von Gesundheitsstufen. Würfelproben erfolgen grundsätzlich mit zwei W6, wobei zum Ergebnis jeweils der geforderte Attributswert addiert wird. Auf diese Weise muss man ein Ergebnis zwischen 9 (leicht) über 15 (sehr schwer) bis hin zu 21 (unmöglich) in Dreierschritten nach SL-Vorgabe erreichen.
Kämpfe werden durch vergleichende Stärkewürfe abgehandelt. Es werden einige Boni und Mali sowie mögliche Spezialangriffe gelistet, doch all das bleibt im sehr leicht zu erlernenden Rahmen.
Spannend hierbei ist, dass es sich zwar um ein sehr einfaches Regelsystem handelt, das sich bei Spielern, die mit dem Spiel nicht vertraut sind, sehr schnell einprägt, zugleich aber dennoch genug Variationen angeboten werden, um Aktionen spannend zu halten. Das bezieht sich vor allem, aber nicht nur, auf den Kampf; selbst Aspekte wie Teamwork sind in die Regeln aufgenommen worden.
Neben dem Kampf wurde den Regeln für Nahrungsaufnahme und Regeneration besonders viel Raum gegeben. Hier zeigt sich die größte Komplexität des Spiels überhaupt, so dass der Verdacht aufkommt, dass der Autor in diesem Bereich auch einen Schwerpunkt setzen wollte. Dies ist ihm allerdings nur begrenzt gelungen, denn im Rahmen einer Session von etwa drei bis vier Stunden kommen diese kaum oder gar nicht zum Tragen, natürlich abhängig vom Aufbau der gespielten Geschichte.
Dass The Veggie Patch von vornherein nicht unbedingt auf eine längere Kampagne ausgerichtet ist, zeigt sich beispielsweise beim System der Erfahrungspunktvergabe. Nach jeder Geschichte erhält man demnach einen weiteren Attributspunkt sowie eine verbesserte Gesundheit, was bei längerem Spielen schnell zu Mega-Gemüse führen würde. Auch die durch zwei Karten und die Hintergrundgeschichte definitiv begrenzte Spielwelt weist eher den Spielspaß für zwischendurch aus.
Charaktererschaffung
Um starten zu können, wählt man eins der vorgegebenen Gemüse oder denkt sich selbst eines aus, das man zusammen mit dem Spielleiter mit Werten versieht. Bei den vorgegebenen Gemüsen sind die Grundwerte, verteilt auf fünf Attribute, bereits vorgegeben. Man erhält weitere fünf Punkte, die man auf diese Attribute bis zu einem maximalen Attributswert von 10 frei verteilen kann. Außerhalb hat jeder Charakter 14 Gesundheitsstufen, die man ebenfalls mit den freien Punkten anheben kann. Ein Punkt entspricht hierbei drei zusätzlichen Gesundheitsstufen. Inwiefern dies sinnvoll ist, hängt stark von der Ausrichtung der Spielgruppe ab. Grundsätzlich wird man bei null Gesundheitsstufen ohnmächtig, verstirbt jedoch erst bei –10. Und auch dann gibt es noch Möglichkeiten für die anderen Charaktere, den Betroffenen zu stabilisieren und zu retten.
Dann wählt man noch einen Vornamen für sein Gemüse, wirft zwei W6 zur Bestimmung des Start–Komposts (der Währung im Spiel), und dann kann man auch schon loslegen.
Wer das Ganze sehr ernst nimmt, kann nicht nur den enthaltenen Charakterbogen nutzen, sondern auch die eingangs erwähnten Charakterbilder. Im Grunde reicht es allerdings auch aus, die benötigten paar Werte auf einen einfachen Zettel zu schreiben.
Und damit ist man dann auch schon fertig mit der Charaktererstellung – hervorragend für eine schnelle Runde zwischendurch, denn selbst mitsamt einiger Erläuterungen zu den Attributen und einigen Grundbegriffen dauert das Erstellen innerhalb einer Spielgruppe nicht länger als höchstens zehn Minuten.
Spielbarkeit aus Spielleitersicht
Durch die Mischung aus eingängigen Spielregeln und etlichen Plotaufhängern ist es selbst für unerfahrene Spielleiter ein Leichtes, eine weitgehend frei spielbare Geschichte aufzubauen. Sowohl das Verschweigen des vom Autoren erdachten Hintergrunds als auch der offene Umgang damit auf Spielerebene können interessante Spielsituationen erschaffen.
Persönliche Modifikationen am Regelsystem können dennoch sinnvoll sein. Beispielsweise legt das System fest, dass der höchste Move–Wert stets der Inititative entspricht. Das bedeutet, dass die Spieler in Actionsequenzen auch stets in der gleichen Reihenfolge handeln, was für diejenigen mit niedrigerem Move–Wert schnell frustrierend werden kann.
Spielbarkeit aus Spielersicht
Die größte Hürde für Spielleiter und Spieler gleichermaßen ist die Skurrilität des Settings. Sich darauf einzulassen, ein Gemüse zu spielen, erfordert sicherlich einen bestimmten Spielertyp. Abseits dessen kann man The Veggie Patch jedoch auch schlicht als Bier&Brezel-Spiel handhaben. So ganz ernst nimmt sich das Spiel – wer hätte es gedacht? — ohnehin nicht, so dass diesbezüglich keine Hürden gegeben sind.
Lässt man sich auf die Gegebenheiten ein, kann man als Spieler das Gefüge um sich herum jedoch beinahe so leicht erfassen wie die Spielregeln selbst. Spielansätze innerhalb und außerhalb des Plots sind schnell greifbar, man kann sich einfach wild ins freie Experimentieren stürzen oder aber einem vorgegebenen Plot folgen, ganz nach Belieben der Runde.
Allerdings gilt: Umso stärker die Spieler ihre Charaktere darstellen können, desto besser. Einige Stereotypen sind bereits in den wenigen Beschreibungssätzen zu den einzelnen Gemüsen enthalten, und umso mehr „Fleisch“ man diesen gibt, desto lebendiger und bunter wird auch das gesamte Spiel.
Preis-/Leistungsverhältnis
Für 2,95 USD erhält man ein komplettes und gut spielbares Regelsystem mitsamt Setting – mehr kann man nicht wollen.
Spielbericht
Mit einem der angedeuteten Plotaufhänger des Buches, als One-Shot gedacht und mit insgesamt sechs interessierten Mitspielern machten wir uns daran, The Veggie Patch auch tatsächlich mal praktisch zu testen.
Die Charaktererschaffung nahm mitsamt einiger Grunderläuterungen die bereits erwähnten zehn Minuten in Anspruch. Einer der Spieler kam eine Stunde zu spät zur Session, konnte jedoch mit wenigen Sätzen Hilfestellung rasch selbstständig seinen Charakter erstellen und noch einsteigen. Charaktere wie Santiago de Mais, Ketch Tomate und Klaus Karotte waren alsbald startbereit.
An den Anfang der Session setzte ich ein paar der wichtigsten Informationen als in die Geschichte eingebundene. Kurt Karotte, eines der erfahrenen Gemüse des Beets, informierte die jüngsten ehemaligen Setzlinge – die Spieler – über die wichtigsten Orte des Beetes, die Gefahren draußen und einige Benimmregeln sowie die Essensausgabe. Es gab einen kurzen gemeinsamen Rundgang durch das Beet, danach konnten die Spieler sich frei bewegen, was allerdings zu diesem Zeitpunkt nur von zwei Spielern auch tatsächlich wahrgenommen wurde.
Innerhalb von insgesamt 40 Minuten ab dem Zeitpunkt des Treffens sind wir dann zum Plot übergegangen und es galt, der um sich greifenden Pilzseuche Herr zu werden. Natürlich brauchte es dazu einige todesmutige Gemüse, die bereit waren, in die Wildnis hinaus zu gehen, um dort nach einem Heilmittel (in einer Spraydose) zu suchen.
Um es ein wenig spannender zu machen, wurden die später auftauchenden Begegnungen zwar umschrieben, jedoch nicht eindeutig benannt, was zu interessanten Überlegungen führte.
Unterwegs überrascht von zwei Puschelbeeren, wie die Spieler die eigentlichen Kaninchen schließlich selbst tauften und ein paar vermeintlich flauschigen und harmoniebedürftigen Blumen mit kleinen Blütenkelchen, die sich als Brennnesseln entpuppten, konnte das Kampfsystem des Spieles getestet werden. Die Kämpfe selbst verliefen sehr flüssig und schnell, auch wenn die Initiativebestimmung wie angedeutet von mir gehausregelt wurde, um allen gleichermaßen mehr Möglichkeiten einzuräumen.
Zu guter Letzt konnten die Gemüse mit dem rettenden Spray zum Beet zurückkehren und sich dort zu Recht feiern lassen.
Der One-Shot war in drei Stunden mitsamt Charaktererstellung und grundsätzlichen Erläuterungen vollständig abgehandelt, ohne dabei zu sehr auf die Tube zu drücken. Wäre mehr Charakterspiel oder ein etwas komplexerer Plot gewünscht gewesen, wäre die Session auch nach fünf bis sechs Stunden sicherlich eine insgesamt kurzweilige gewesen. Weniger Spielzeit hätte ich auf die Geschichte allerdings nicht verwenden wollen.
Uns allen hat die Session ziemlich viel Spaß gemacht. Die Meinung zur Eingängigkeit des Ganzen bei zeitgleich bestehender Innovation des Settings war einhellig, niemand hatte größere Probleme, sich einzufinden.
Erscheinungsbild
Das PDF-Regelwerk umfasst gerade einmal 42 Seiten. Während man für das Cover die Angaben zu Titel, Autor und Herausgeber eher mäßig professionell auf den Hintergrund einer Gemüsefotografie aufgebracht hat, warten die folgenden Seiten mit einem deutlich positiveren Eindruck auf.
Die Innenillustrationen stammen aus der Feder von Sarah Badcock und stellen in comicartigen Bleistiftzeichnungen die einzelnen Gemüsecharaktere sowie ihre Gegenspieler aus der Kohlgewächsecke dar. Und weil sie so nett anzusehen sind, finden sich diese Bilder auf den letzten beiden Seiten des Regelwerks noch mal zum Ausschneiden und Verwenden als Charakterbild, einmal neun, einmal sechs Bilder pro Seite.
The Veggie Patch kommt mit zusätzlich zwei ganzseitigen Geländekarten, ebenfalls im Stil handgezeichneten Materials, völlig aus.
Dem Regelwerk ist ein sinnvoller Index vorangestellt, sodass es ein Leichtes ist, auch nach der Erstlektüre durch das PDF zu navigieren und gesuchte Stellen rasch wiederzufinden.
Fazit
The Veggie Patch bietet für etwa zwei Euro eine komplette Spielwelt hinsichtlich Setting und Regelsystem. Beides ist für Spielleiter wie Spieler gleichermaßen eingängig und eignet sich für ein in wenigen Minuten spielbereites Bier&Brezel-Spiel ebenso wie für eine oder mehrere Sessions zwischendurch. Langfristige Kampagnen entstehen aus den Vorgaben wohl eher nicht, sind auch nur begrenzt empfehlenswert. In jedem Fall ist The Veggie Patch jedoch ein kurzweiliges und spaßiges System, das durchaus einen Blick und das eine oder andere Abenteuer lohnt; dafür sorgen simple Regeln und ausreichende Variationsmöglichkeiten.
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